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Jerusalem

Titel: Jerusalem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns Kneifel
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Erzählung wenig Glauben schenkte, geschweige denn der trügerischen Natur der Fürsten vertraute. Aber als Bischof konnte er die Möglichkeit eines Wunders nicht ableugnen. Also wurde beschlossen, dass in der Peterskirche morgen nach der Heiligen Lanze gegraben wird.«
    Thybolds Blick irrte ab. Er riss plötzlich den Kopf in den Nacken und hob den Arm. Er zeigte zum Firmament. Die Blicke Chersalas, Rutgars und der Krieger folgten Thybolds Geste. Zwischen den Sternen erschien ein Lichtblitz, eine gekrümmte Spur vom Horizont zum Zenit, und der gleißende, lautlose Sternenpfeil zerbrach über ihren Köpfen in drei flirrende Bahnen, die in der Mitte der feindlichen Lager einzuschlagen schienen. Noch während die Blitze die Augen blendeten, erscholl aus allen Richtungen ein lang gezogener Schrei aus Zehntausenden Kehlen. Ein Stöhnen der Furcht, wie von einer großen Zahl geschundener Kreaturen. Noch zwei, drei Atemzüge nachdem die Sternensplitter vergangen waren, hallte die Qual nach.
    Thybold senkte den Kopf, zog die Schultern hoch und sagte in endgültigem Tonfall: »Nun, zusammen mit der Vision der Heiligen Lanze ist es ein Wunder geworden. Es wird uns bis nach Jerusalem und noch weiter führen.«
    Thybold ließ die Schultern sinken und blickte prüfend um sich. Es blieb still; noch. In dieser Nacht geschahen die wunderbaren Dinge in den Augen, den Köpfen und Herzen der vielen Menschen, in denen der Muslime ebenso wie in denen der Christen, der einfachen Pilger und der hohen christlichen Fürsten. Auch jene, die nichts verstanden, glaubten den Hauch der Ewigkeit zu spüren, der sie morgen oder in ein paar Tagen an dem Wunder würde teilnehmen lassen, das ihr erbärmliches irdisches Sein zum Schreiten inmitten der Wonnen des Paradieses wandeln würde.
    Jean-Rutgar hätte, weiß Gott, vieles darum gegeben, von Bischof Adhemar die Wahrheit zu erfahren. Aber vielleicht wollte Gott, dass auch der päpstliche Legat nicht die volle Wahrheit erkannte.
 
    Am 14. Tag des Brachmonds betrat Peter Bartholomäus zusammen mit Stephan von Valence, der selbst eine Vision des Herrn gehabt hatte, dem Geistlichen Raimund von Aguliers und zwölf weiteren Männern kurz nach Sonnenaufgang die St.-Peter-Großkirche. Die Männer trugen Hacken, Schaufeln und Meißel. Hinter ihnen und einer Schar auserwählter Arbeiter wurde das Gotteshaus verschlossen. Peter Bartholomäus zeigte den Männern die Stelle, an der Sankt Andreas ihm die vergrabene Klinge der Heiligen Lanze gezeigt hatte. Ohne Unterlass hackten und schaufelten die Männer nahe des Hochaltars eine tiefe Grube aus. Sie fanden nur Sand, Steine und Tonscherben. Bartholomäus riss sich gegen Abend die Kutte von den hageren Gliedern, forderte alle Grabenden zum inbrünstigen Gebet auf und sprang selbst in die Grube. »Ich sehe sie!«, rief er. »Ich sehe ihre Spitze aus dem Boden ragen!«, und begann selbst zu graben. Ihm folgte Raimund von Aguilers, küsste beim Flackerlicht von Kerzen und Öllampen die Lanze, und kurz darauf, als der erste Jubel verklungen war, begannen die Glocken zu läuten.
    Gott hatte Zeichen gesandt und Visionen geschickt - das Lanzenwunder wandelte sich in das Schwert des Herrn, das alle Ungläubigen vernichten würde, die das Grab Christi den Pilgern vorenthielten. Noch während der Nacht erfuhr jedermann innerhalb der Mauern, welches Wunder sich zugetragen hatte. Selbst Adhemar hörte davon, begriff und verstand, sah die Lanzenspitze, in goldbestickten Brokat gehüllt, und beugte sein weißhaariges Haupt vor dem Offensichtlichen.
    Schon am nächsten Tag begann Peter Bartholomäus Weissagungen und Befehle der Heiligen zu verkündigen, die jeden im Kreuzfahrerheer zu siegreichen Streitern wider die Heiden bestimmten. Jene Männer, viele griechische und armenische und syrische Christen, die diese Vision nicht glaubten, hüteten sich, über ihre Zweifel zu reden. Der heilige Andreas, erläuterte Bartholomäus wortreich, habe fünf Tage Fasten und daraufhin einen Angriff auf die Ungläubigen befohlen - der Sieg, rief er, sei sicher.
    Rutgar kaute auf einem Fladenbrot aus Rinde, schmutzigem Mehl, gerösteten Feigen und Körnern, deren Herkunft er lieber nicht ergründen wollte, und wunderte sich darüber, neben Chersala in dem kleinen Palast getöteter Seldschuken liegend, dass das Heer Kherbogas, unüberschaubar zahlreich und ohne jeden Mangel an Proviant, nicht die Stadtmauern zu stürmen versuchte.
 
    Überläufer, Hirten, Kundschafter und syrische Händler

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