Jerusalem
wieder in der Nacht.
Für den einäugigen Raimund von Toulouse und Saint-Gilles war die Mondfinsternis ein göttliches Zeichen, das ihn aufforderte, unverzüglich zur Heiligen Stadt zu eilen.
Der Heerbann brach auf und ließ nur verlöschende Feuer und Abfälle zurück. Eine Weile danach folgten Berengers Reiter, mit ihnen Chersala und Rutgar. Kurz nach Sonnenaufgang gesellten sich ungefähr hundert Ritter aus Tancreds kleinem Heer mit einer ungewöhnlichen Beute zu Raimunds Reitern. Der Ritter Gaston von Beziers, ein Franzose, hatte mit seinen dreißig Bewaffneten einer Gruppe Hirten einige Rinderherden geraubt und trieb sie heran. Die Hirten flüchteten nach Jerusalem und riefen muslimische Krieger zur Hilfe, die Ritter Gastons Räuber verfolgten. Gaston sah zufällig Tancreds Bewaffnete, vereinigte sich mit ihnen, und gemeinsam schlugen sie die Muslime in die Flucht. Die Beute war den Franken sicher.
Noch vor Mittag des 7. Tages im Brachmond machte das Heer, durch steile Schluchten und auf engen Pfaden, geführt von den muslimischen Wegekundigen, an der höchsten Erhebung Halt, keine sechs Meilen vor der Heiligen Stadt. Den Hügel krönte eine Moschee, die des Propheten Samuel. Die bewaffneten Pilger nannten den Hügel »Mons gaudii« oder »Montjoie«, den Berg der Freude. Gewaltiger Jubel brach unter den vielen Tausenden bewaffneten und unbewaffneten Pilgern aus. Das Heilige Grab und unermessliche Beute warteten hinter den Mauern.
Hungrig, in Lumpen, heruntergekommen und mehr Bettlern gleich als Rittern in funkelnden Rüstungen, verschwitzt und staubbedeckt, stimmten die Pilger fromme Lieder an, sanken einander weinend in die Arme oder genossen in schweigender Ergriffenheit den Anblick der Mauern und Türme und, am höchsten Punkt der Stadt, der goldenen Kuppel des Felsendoms.
»Deus lo vult!«
Ein muslimischer Führer ritt zu Berenger, grüßte schweigend und stieg aus dem Sattel. Er verneigte sich und warf einen langen Blick auf die Jubelnden, die den Hügel um die Moschee herum Kopf an Kopf bedeckten. Dann legte er die Hand auf die Brust und sagte: »O Effendi Berenger. Von den Hirten, die ihre Herden an Euch verloren haben, weiß ich es: Alle Brunnen außerhalb der Mauern sind vergiftet oder unbrauchbar gemacht worden. Ihr werdet große Not leiden, wenn Ihr General Iftikhars mutige Krieger jetzt, in den heißen Monaten, angreift.«
Berenger starrte ihn an, als sähe er der Mondfinsternis zu. Er zog den Kopf zwischen die Schultern und fragte:
»Du bist sicher, dass sie dir die Wahrheit gesagt haben?«
»Sie haben's geschworen, Effendi.«
»Milch und Honig.« Berenger unterdrückte einen Fluch und wechselte mit Rutgar und einem seiner Unterführer bedeutungsvolle Blicke. »Ich werde es Fürst Raimund sagen. Ob er sich überzeugen lässt - ich weiß es nicht.«
»Unser aller Leben liegt in Allahs Hand«, entgegnete der Muslim.
Berenger nickte. »Inschallah!«
Kapitel XXX
A.D. 1099, VOM 7. T AG IM B RACHMOND BIS ZUM
15. T AG IM H EUMOND (J ULI )
V OR UND IN J ERUSALEM
»Der letzte Feind, der vernichtet wird, ist der Tod.«
(1. Kor 15,26)
Die muslimischen Führer wurden verabschiedet und in Ehren entlassen. Berengers Finger schlossen sich um das Handgelenk eines jeden Muslims; er schüttelte den Unterarm eines jeden der berittenen Führer.
Eine Erinnerung zuckte jäh durch Rutgars Gedanken. Er fingerte aus der Innentasche seines Gürtels den Ring, den ihm der sterbende Seldschuke bei Drakon geschenkt hatte. Er schob ihn über den rechten Zeigefinger, ging zu Afdal, dem Anführer der Muslimreiter, und hob die Hand. Der Ring blitzte im Sonnenlicht.
»Ich kenne diese Zeichen nicht«, sagte er und verbeugte sich kurz vor dem Muslim. »Vielleicht ist es eure Schrift, Sheik Afdal. Kannst du sie lesen?«
Afdal sah ihn aus dunklen Augen prüfend an, nahm dann vorsichtig den Ring zwischen Daumen und Zeigefinger und hielt ihn ins Licht, bis die feinen Schatten die Zeichen schärfer modellierten. Ein zweiter, längerer Blick wanderte vom Ring zu Rutgars Gesicht und wieder zurück.
»Ich kann's lesen«, sagte Afdal. »Da steht geschrieben: Allah liebt mich. Hilf mir, Bruder. Der Allerbarmer wird es dir danken.« Afdal holte tief Luft und fuhr fort: »Jeder Muslim, der lesen kann, wird tun, worum du bittest. Du musst einen mächtigen Emir getötet haben.«
Rutgar schüttelte den Kopf und schob den Ring zurück auf seinen Finger. »Ich fand ihn sterbend und hab seine letzten Atemzüge leichter
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