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Jerusalem

Titel: Jerusalem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns Kneifel
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ritten Robert von Flandern und Gaston von Béarn in die Stadt ein.
    Man ernannte den normannischen Priester Robert von Rouen zum Bischof, der in Lydda und Ramlah eine Diözese errichten sollte, von einem Häufchen Soldaten beschützt. Und schon am nächsten Tag bauten die Franken ihr Lager im Dorf Emmaus auf.
    Als die Sonne sank und die Balken der Schöpfbrunnen zur Ruhe gekommen waren, kamen Boten ins Dorf eingeritten. Einige Späher geleiteten sie zu den Fürsten. Es waren griechische und syrische Christen aus Bethlehem, die zum Schutz vor den Muslimen um Soldaten baten und dafür ihre Stadt den Franken übergeben wollten. Nach Bethlehem hatten sich die Christen geflüchtet, die vor wenigen Tagen auf Befehl des Generals Iftikhar ad-Dawlan aus Jerusalem hinausgetrieben worden waren.
 
    Sofort sammelten sich zweihundert schwer bewaffnete Ritter unter der Führung Balduins von Le Bourg und Tancreds von Tarent. Sie ritten mit verhängten Zügeln im Licht ihrer lodernden Fackeln die ganze Nacht hindurch, an Jerusalem vorbei, nach Bethlehem. Dort wurden die Ritter trotz des morgendlichen Zwielichts und ihrer bisweilen muslimischen Kleidung erkannt; in der Geburtsbasilika der Stadt feierten die Stadtbewohner, Ritter und versprengten Christen daraufhin einen Dankgottesdienst. Aber schon am späten Morgen stiegen Tancred und seine Mannen wieder in die Sättel und galoppierten nach Jerusalem; er wollte nicht der Letzte sein, wenn die Fürsten und die fränkischen Heere die Heilige Stadt erreichten.
    Berengers Vorahnung hatte sich als richtig erwiesen. Die Späher und die muslimischen Reiter lagerten, ohne ihre Zelte aufzurichten, vor Emmaus. Nach Mitternacht waren der Lärm und die Geräusche des Aufbruchs im Lager der Franken so laut geworden, dass selbst Chersala aus dem tiefen Schlaf aufwachte. Am klaren Himmel stand der Halbmond, weiß, kalt und unerreichbar.
    »Gibt es Kampf?«, sagte sie, gähnte und rieb sich die Augen.
    »Nein, Liebste«, antwortete Rutgar verschlafen. »Sie sind nicht mehr zu halten. Die Fürsten und ihre Ritter wittern die Heilige Stadt.«
    An den Glutresten der Lagerfeuer zündeten einige Kundschafter Fackeln an; der Lärm hatte auch sie geweckt. Rutgar sah sich um und erkannte binnen eines Dutzends Atemzügen, dass Pilger, Soldaten, Ritter und Fürsten von einer heftigen, zu dieser Stunde ungewohnten Unruhe erfasst worden waren. Sie waren so nahe an Jerusalem, dass sie nicht länger warten wollten. Während sich die große Masse Volks sammelte, die Reitpferde gesattelt und die Packtiere beladen wurden und während im molkigen Mondlicht die Zahl der Fackeln zunahm, brachen die ersten Bewaffneten auf. Berenger ritt zusammen mit fünf muslimischen Führern hinüber zu den Fürsten und dolmetschte; Jerusalem lag nur einen Tagesritt entfernt hinter den Hügeln.
    Als Chersala und Rutgar ihre Pferde von der Weide holten, tränkten und zäumten, warf Rutgar einen Blick zum Himmel. Sie standen ein wenig außerhalb des Lagerfeuers, sodass die Flammen die Augen nicht ablenkten. Keine einzige Nachtwolke stand am Himmel, und noch überstrahlte der Halbmond die Sterne. Aber der Rundung des Gestirns näherte sich aus dem schwarzen Nichts ein rötlicher Schatten, der über die Scheibe zu kriechen und sie grau und schwarz zu färben begann.
    Der Lärm und das Geschrei aus dem Heerlager veränderten ihre Bedeutung. Wieder ein göttliches Zeichen! Ein nächtliches Wunder! Furcht, aber auch Zuversicht und wilde Entschlossenheit klangen aus den Schreien; dazu das Wiehern erschreckter Pferde und das Blöken der Lämmer.
    »Da fängt ein grausiges Geschehnis an, Liebste«, sagte Rutgar beunruhigt. »Eine Finsternis des Mondes. Ist es der Schatten, den Gott dem Heer schickt?«
    Sie starrten schweigend den Mond an, über den sich der Schatten schob, bis die halbierte Scheibe nur noch zu ahnen war. Im Lager der Franken und auch rund ums verglimmende Feuer der Kundschafter breitete sich ein ehrfürchtiges, ängstliches Schweigen aus, obwohl die Laute des Aufbruchs weiterhin zu hören waren. Das bleiche Licht, das über dem Land gelegen hatte, war vergangen; mehr und mehr Sterne erschienen und zeugten vom Wunder des Vergehens und des Neuanfangs. Eine angsterfüllte Ewigkeit später zog der Schatten weiter, gab einen kleinen Teil des Gestirns frei. Der weiße Mond erschien stückweise, die Verfinsterung wich binnen vieler banger Atemzüge, und je mehr der Glanz des Halbmonds zunahm, desto mehr Sterne rund um ihn versanken

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