Jerusalem
gegen die Stadtmauer. Als die ersten Steine und Quader aus der Mauer brachen, gerieten die Verteidiger in helle Wut.
Von den Zinnen hagelte es Geschosse aller Art. Pfeile, Brandpfeile, Wurfspeere, Steinbrocken, heißes Pech, lodernder Schwefel und heißes Wachs prasselten auf das Reisig und das Flechtwerk des Widderdaches herunter. Krachend schleuderten die Katapulte Steine und Balken mit eisernen Spitzen in die Stadt. Die Belagerer schützten sich durch Schilde, löschten die Brände mit dem letzten Wasser und schrien den Männern an den Katapulten zu, sie sollten besser zielen. Daraufhin wurde ein Katapult nach dem anderen anders ausgerichtet.
Rutgar und ein unbekannter Franke riefen einander »Los! Ziehen!« zu, spannten ihre Muskeln und griffen in die Speichen der Seiltrommel. Langsam wurden die Arme des Katapults nach hinten gezogen. In kurzen Abständen blickte Rutgar in die Richtung des kleinen, verwahrlosten Lagers. Er wusste Chersala und den verwundeten Späher im Schutz zweier Kundschafter; alle anderen Männer arbeiteten an den Katapulten und am dritten, weitaus kleineren Belagerungsturm.
Die Sehnen der Schleuderarme hakten sich fest, der dicke Pfeil wurde eingelegt, und der Ritter neben Rutgar schlug die Sperre herunter. Der eisenbeschlagene Balken knirschte in der Laufrille und jagte in fast gerader Flugbahn zur Oberkante der Mauer. Dort zerschlug das Geschoss eine Zinne und schleuderte zusammen mit den Steinbrocken einen schreienden Verteidiger von der Mauerkrone. Fast gleichzeitig schlugen Steinbrocken und Brandsätze an anderen Stellen in die Mauerkrone ein und vertrieben die Verteidiger.
Zwei Tage lang schleuderten Ballisten und Katapulte ihre Geschosse gegen die Zinnen und durch die Zwischenräume. Vor den Mauern wimmelte es von Belagerern. Es stank nach Schweiß Tausender ungewaschener Leiber. Jeder Schritt wirbelte Staub auf, der in Augen, Nasen und Mündern biss und sich auf die Körper legte. An vielen Stellen schwelten kleine Brände, und es gab viel zu wenig Wasser, um sie zu löschen. Rauchschwaden krochen dicht über dem Boden dahin und brachten die Menschen zum Husten und Keuchen. Überall lagen gesplitterte Steinbrocken mit scharfen Kanten. Das Geschrei der Angreifer und das Krachen der Katapulte hallte von den Mauern wider. Ohne Erbarmen brannte die Sonne auf die Menschen herunter.
Die Kundschafter halfen den Matrosen und Handwerkern und richteten die Maschinen auf neue Ziele ein. Flüssiges Feuer setzte den Widder in Flammen, und als der Belagerungsturm wieder zusammengesetzt war und beide Türme quer durch die Gräben sich den Mauern näherten, der Nordmauer und der Mauer beim Berg Zion, wurden auch sie zu Zielen für die Flammenwerfer. Der dritte, kleine Turm näherte sich der Nordwestecke, wo ein Scheinangriff ausgeführt werden sollte. Berenger hatte erfahren, dass eintausenddreihundert Ritter und zwölftausend Fußkämpfer die Mauern berannten; die Zahl der unbewaffneten Pilger schien ebenso groß zu sein. Aber gemessen an den Zehntausenden, die einst aufgebrochen waren, um die Heilige Stadt zu befreien, war es nur ein armseliger Bruchteil des ursprünglichen Heeres.
Am 14. Tag des Heumonds gelang es, beide Türme so nahe an die Mauern zu schieben, dass die Ritter von den Türmen aus kämpfen konnten. Aber es glückte weder Raimund noch Gottfried und Eustachius, die Mauer zu erreichen und einzunehmen.
Seit der Mondfinsternis hatte eine seltsame Stimmung alle Belagerer ergriffen. Niemand vermochte zu deuten, was die Herzen der vielen Tausenden bewegte, welche Sehnsüchte oder Empfindungen ihre Gedanken beherrschten. Niemand schien unter dem Dreck zu leiden, niemand Durst und Hunger zu spüren. Es schien, als sei ihre Zuversicht zu fester Gewissheit, ja zu blindwütiger Überzeugung geworden. »Deus lo vult!«, murmelten, keuchten, riefen und sangen sie; während sie schufteten, beteten sie, von den Geistlichen beschworen und gesegnet: »Unser Gott ist der Stärkere!« Fast alle waren an den drei Stellen der Mauern versammelt, an denen am nächsten Tag der Angriff mit allen Kräften begonnen werden sollte.
Am Abend hatten die Türme dicht vor den Mauern angehalten. Am Morgen, in der blutfarbenen Röte des Sonnenaufganges, setzte sich der Turm Gottfrieds wieder in Bewegung, von Hunderten geschoben und gezogen, und blieb so dicht an der Mauer stehen, dass die Turmbrücke, wenn sie fiel, auf der Mauerkrone aufschlug. Die gesamte Stadt und die Hügel ringsum waren in dieses
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