Jerusalem
Stadt. Sie besaßen nichts außer dem eigenen Leben. Raimund, nunmehr Herr der Festung, erbeutete alles: Waffen, Pferde, volle Schatztruhen, Proviant und gefüllte Zisternen. Mit seiner erschöpften Schar zog er in die menschenleere Festung ein.
Inzwischen waren mehr und mehr Berittene und Fußsoldaten beutegierig und mordlüstern in die Stadt gedrängt. Tief in ihren Herzen mischten sich Trauer und Wut, Erleichterung und der Triumph ihres Glaubens. Allein von denen, die mit den Fürsten nach Jerusalem aufgebrochen waren, die Toten des Volkszuges nicht gerechnet, waren zwei Drittel aller Pilger, Ritter wie Arme, auf der langen Reise gestorben. Krankheiten, Seuchen, Tod, Flucht, Verhungern und Verdursten hatten unzählige Leben gekostet. Doch dies trat nun alles in den Hintergrund. Die Ängste in fremden Ländern, das Gefühl der Einsamkeit und die Furcht, als Fremder im Sarazenenland zu sterben, waren plötzlich verschwunden. Gott hatte es so gewollt. Sie hatten gesiegt. Zwischen dem Heiligen Kreuz und dem Grab Christi gab es nur noch Muslime, die um ihr nacktes Leben rannten. Heilige, blinde Raserei hatte die Christen erfasst.
Einigen Geistlichen war bewusst, dass der Sieg am 9. Tag nach der Adhemar-Erscheinung errungen worden war, und zudem zur gleichen Stunde, in der Jesus am Kreuz gestorben war. Die Priester wollten am Ölberg auch einen weißen Ritter gesehen haben, der dem heiligen Andreas ähnelte und mit Lichtblitzen von seinem spiegelnden Schild die Angreifer anspornte. An wenigen Stellen wehrten sich die Muslime noch mit verbissenem Mut, aber sie mussten sich geschlagen geben und zogen sich zurück. Mit ihnen flüchteten Tausende einfacher muslimischer Stadtbewohner.
Gefangene hatten Tancred verraten, dass im Felsendom riesige Schätze angehäuft waren; aber da kein Verteidiger mehr an Kampf dachte, flüchteten alle in die Moschee, von Tancreds Rittern verfolgt, hinter denen die Pilger durch eine Mauerbresche und die Tore strömten. Jedem Pilger war zugesichert worden, dass ihm niemand seine Beute wegnehmen durfte; die Fürsten hatten dies beschworen.
Zum Tempelplatz, dem Felsendom und der Großen Moschee, der hoch über den Dächern der Stadt aufragte und durch wuchtige Festungsmauern geschützt war, führten nur wenige Tore und Treppen. In den Mauern erhoben sich ebenso wuchtige Türme. Aber Iftikhar hatte nicht daran gedacht, den Platz zu verteidigen. Einige Tausend Muslime, alt und jung, hatten voller Angst ihre Häuser verlassen, waren durch die überfüllten Gassen zum Tempelplatz gerannt und hatten dort in der Moschee Schutz gesucht. In ihrer Not, da im Innenraum sich die Geflüchteten eng zusammendrängten, kletterten viele Muslime auf das Dach und hofften, so ihr Leben zu retten. Andere rannten zum Brunnen El-Kas, nahe der Moschee, zu dem viele Stufen hinunterführten, und glaubten sich verstecken zu können.
Wo die Ritter und ihr Gefolge erschienen, zu Fuß und zu Pferde, gab es nichts anderes als Totschlagen und Plündern. Haus um Haus wurde gestürmt, und unterschiedslos jeder Bewohner wurde ein Opfer des Schwertes. Die Christen rasten im Blutrausch. Vielleicht gelang es wenigen Muslimen, sich so geschickt zu verstecken, dass sie während des ersten Ansturms den Rest des Tages und die Nacht überlebten. Jeder wusste, dass der nächste Tag noch furchtbarer werden würde. Die Ritter ließen an die Türen der gestürmten Häuser ihre Zeichen anbringen und darunterschreiben, wem dieses Haus von nun an gehörte.
Die Juden der Stadt hatten als Erste geahnt, gefürchtet, gewusst, welches Schicksal ihnen drohte. Noch vor der ersten Welle des Tötens waren sie fast vollzählig in die Synagoge geflüchtet und hatten sich dort verbarrikadiert; an Gegenwehr war nicht zu denken. Das Gemetzel dauerte bis zur Abenddämmerung und schien erst aufzuhören, als die nächtliche Finsternis einsetzte.
Rutgar stieg aus dem Sattel, ohne die Kundschafterfahne loszulassen. Neben ihm sprang Berenger zu Boden, hob den Arm und rief: »Diese zwei Häuser gehören jetzt uns! Führt die Pferde in den Stall, stellt Wachen auf - weg von der Straße!«
Verwundert, aber wortlos gehorchten die Männer seiner Schar. Berenger und Rutgar hängten ihre Schilde an Holzpflöcke in der langen Hauswand. Als der erste Ansturm vorbei war und die Mehrzahl der Christen nicht mehr durch die Tore drängte, waren Berenger und Rutgar in voller Bewaffnung in die Stadt geritten und hatten in einer Seitengasse die scheinbar leeren
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