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Jerusalem

Titel: Jerusalem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns Kneifel
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kannte die Stimmung im bewaffneten Teil des Heeres ebenso wie unter den Pilgern. Der bedingungslose Glaube, der die Zehntausende bis heute vorwärtsgetrieben hatte, war schwankend geworden. Durst und Entbehrungen und die unüberschaubare Länge der Pilgerfahrt hatten die Einheit zwischen Peter dem Eremiten und seiner Gefolgschaft zerschlissen. Rutgar fluchte im Stillen, schnallte den Schwertgurt um, krempelte die Reiterhose bis zu den Knien hoch und folgte Peter bis zum Rand des von Menschen erfüllten Platzes.
    Die Hitze des Tages war längst noch nicht gewichen. Die Feuer, von denen große Funken in die Höhe wirbelten, ließen die Menschen schwitzen. Sie wichen achtungsvoll aus, als sie Peter erkannten. Viele blickten zu Boden, als wollten sie vermeiden, ihn grüßen zu müssen. Rutger sah, dass er immer noch die kostbare Bibel in der Hand hielt und sie wie einen Schild vor sich hertrug.
    Peter der Eremit ging durch die sich vor ihm bildende Gasse bis zu einer steinernen Terrasse, auf der die Trümmer einer Säule lagen. Sein Schritt war fest, seine Augen glänzten.
    Er stieg auf den Säulenrest und ließ seinen Blick über die versammelten Pilger gleiten; am rechten Rand des Platzes standen die Grafen, die Ritter, ihre Knappen und die Kriegsknechte. Bevor er gekommen war, schienen sich die Menschen beraten zu haben. Einige Atemzüge später, als sich erwartungsvolle Ruhe ausgebreitet hatte, hob er das Buch der Bücher und sein Holzkreuz hoch über seinen Kopf.
    »In nomine Domini!«, rief er. »Im Namen unseres Herrn Jesus Christus rede ich zu euch, meine Freunde. Aus unserer Heimat seid ihr mir bis hierher gefolgt, weil ihr geglaubt habt, was der Herr mir zu predigen aufgetragen hat. Er ist mein Hirte, sagt er, mir wird nichts mangeln, und bald wird er uns auf einer grünen Aue weiden. In eurem Blick sehe ich Zweifel, eure Leiber sind müde geworden, und Blasen martern eure blutenden Füße.« Lichtblitze zuckten von den goldenen Schließen der Bibel. »Vergesst die Plagen, die uns Gott schickt, um uns zu prüfen, denn für jede Mühsal schenkt er uns seine Liebe.«
    Inbrünstige Rufe und Gebete unterbrachen ihn. Auch sie klangen müde und waren längst nicht so zahlreich wie noch vor einem Monat. Peter aus Amiens machte eine Pause, die ihre Wirkung nicht verfehlte, hob die Arme, das Buch in der Rechten, zum Sternenhimmel und rief:
    »Der mächtige Kaiser Konstantinopels, der den Weg ins Heilige Land besser kennt als ihr, weiß von unserer Mühsal. Als Zeichen seiner Güte und seines Vertrauens an mich, der euch vorangeht, hat er uns dieses kostbare Buch geschenkt, das angefüllt ist mit den Worten der Heiligen Schrift. Der Basileus sagte, ich soll euch daraus vorlesen - was ich tun werde -, und er vertraut mir, dass ich euch nach Jerusalem führen werde.«
    Peter ließ eine zweite Pause eintreten, senkte den Arm und machte abwehrende Bewegungen, als das Murmeln lauter wurde, als wieder einzelne Rufe zu hören waren, und als er spürte, wie das Vertrauen der Wankelmütigen zu seinen Worten stärker wurde.
    »Ihr alle habt euch aus der Unfreiheit losgesagt! Ihr seid längst frei und müsst nur Gott gehorchen! Ich führe euch, sage ich, seit dem ersten Tag. Der Herr aber führt mich! Auf rechter Straße führt er mich zum frischen Wasser, und ob ich schon wanderte - so steht im Buch der Psalmen geschrieben - im finstern Tal, fürchte ich kein Unheil. Also führt mich, uns und euch alle der Herr auf dem richtigen Weg, und sein Stab tröstet uns, wenn wir im Schatten ruhen, hier in Nikomedia. Betet mit mir, stärkt euren Glauben an den rechten Weg, esst, trinkt und pflegt eure Glieder, ehe wir weiterziehen nach Civetot, wo uns abermals fruchtbares Land erwartet und ein Hafen für die Schiffe aus Konstantinopel, die uns Proviant bringen. Denen aber, die als gute Christen in den Dörfern der griechischen Christen am Wege räubern und brandschatzen, ruft der Herr zu: Lasst ab von eurem schändlichen Tun!«
    Er stieß den Arm, die Finger ausgestreckt, in die Richtung des ritterlichen Haufens und sah sich nach Rutgar um. Er hielt das Buch an sich gepresst. Rutgar, deutlich für alle zu sehen, lehnte wachsam an einem Säulenstumpf, einen knappen Steinwurf entfernt, und blickte zu dem steinernen Podest, auf dem Peter im weißen und roten Licht der Flammen stand. Peter holte tief Luft und rief durch Murren und zustimmende Rufe mit seiner Predigerstimme, die mühelos bis zum Rand des Städtchens trug:
    »Noch sind wir im

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