Jerusalem
lebten, eigentlich Vasallen Konstantinopels und romanische Christen waren. Noch hatte er keinen Türken gesehen, aber die Reiter kleiner schneller Pferde waren angeblich braunhäutig, gnadenlose Bogenschützen und flinke Kämpfer mit dem Krummschwert. Nikaia, die Hauptstadt des Sultans, war nicht weiter als zwölf Wegstunden zu Fuß entfernt.
»Dann werde ich auch meine Waffen anlegen«, sagte Rutgar und leerte den Becher. »Während wir reden, sind des Papstes Ritter bereits auf dem Weg hierher. Sie werden in Kürze hier sein.«
»So bald? Verlass dich nicht drauf.« Berenger schenkte nach und füllte nach kurzem Zögern auch seinen Becher. »Und wenn sie auf sich warten lassen, was werdet ihr dann tun, ihr frommen Pilger und räuberischen Grafen? Niemand weiß, ob euch die Türken durch ihr Land wandern lassen. Wenn ich ihre Späher sehe, sag ich's dir.«
»Der Prediger und ich werden dich in unser Gebet einschließen.«
Berenger begann zu lachen und schlug Rutgar auf die Schulter. »Du bist ein pfiffiger Bursche, Franzose. Der Hauptmann hat mich vor deinem Fürwitz gewarnt.«
»Gewarnt? Ich bin ein armer Fremdling, fremd im Land, fremd in der Sprache«, antwortete Rutgar unbewegten Gesichts. »Nur Gott weiß, ob ich jemals am Grab des Herrn beten werde.«
Berenger stand auf und drehte den Krug um. Nur einige Tropfen fielen auf die ausgedörrten Bretter. Er hängte den Schwertgurt über seine bloße Schulter, packte probeweise den Schwertgriff und sagte:
»Morgen reite ich nach Kibotos, im Westen. Ihr bleibt in Nikomedia?«
»So lange, bis die Pilger wieder hungern«, antwortete Rutgar. »Hunger oder nicht - ich werde morgen lange schlafen.«
Er packte Berengers Handgelenk, nickte ihm zu und fand sein Pferd zusammen mit anderen Reittieren an einer umgefallenen Säule festgebunden. Er zog sich auf den Rücken des Rappen und stieß ihm die Fersen in die Flanken.
Die meisten Pilger schliefen, als Rutgar durch die zerfallene Stadt ritt und, drei oder vier Stunden vor dem Morgengrauen, sich auf seinem Lager ausstreckte und mit zufriedener Miene einschlief, das Schwert neben sich.
Kapitel X
A.D. 1096, 15. T AG DES H ERBSTMONDS (S EPTEMBER ),
SPÄTER M ORGEN
C IVETOT , HINTER DEN P ALISADEN
»Die Augen des Herrn schauen an allen Orten beide, die Bösen und Frommen. Des Gottlosen Weg ist dem Herrn ein Gräuel.«
(Spr 15,3 und 9)
Die Schiffe der kaiserlichen Flotte hatten abgelegt und waren nach Konstantinopel zurückgerudert worden. Der dreitägige Aufenthalt in Nikomedia hatte den Pilgern wohlgetan, die Menschen und die Tiere waren erholt, und vielleicht ein Drittel aller Pilger bekannte sich zu Peter dem Einsiedel als ihrem Anführer. Er ritt allen »seinen« Pilgern voran, scheinbar, als sei nichts geschehen; drei Schritt hinter ihm trabte der Rappe Rutgars. Rutgars Schild und sein normannischer Helm hingen am Sattelknauf, und das Kettenhemd, das inzwischen fast wie Silber glänzte, hing rasselnd quer hinter dem Sattel. Das Geräusch der Hufe und Schritte ging im Raunen und Murmeln des Gebets unter. Rutgars tief gebräuntes Gesicht war ernst, aber es ließ nicht erkennen, was er dachte.
Peters Schultern zuckten, seine Augen wurden feucht. Vom Wein der vergangenen Nacht, murmelte er, war nicht mehr geblieben als Schmerz in den Schläfen, und im Magen ein Gefühl träger Völle. Es schien eine Ewigkeit her zu sein, dass er verstanden hatte, ein Gefäß Gottes zu sein, der durch ihn redete und - »Deus lo vult!« - unumstößliche Befehle gab.
Peter zitterte, er weinte vor Enttäuschung und Zorn. Die Ritter und ihre Knechte gehorchten ihm nicht mehr, waren also von Gott abgefallen. Über göttliche Macht verfügte Peter nicht, und daher vermochte er über die weltliche Macht, manifestiert in den gräflichen Panzerrittern, nicht zu herrschen.
»Tröste dich«, riet ihm Rutgar. »Die Menschen sind wankelmütig. Sie werden, wenn es an der Zeit ist, wieder dir folgen.«
Die Segel der Fischerboote sahen von Land so klein und unschuldig aus, als hätten sich Schmetterlinge auf dem Wasser der Bucht niedergelassen. Hin und wieder ruderten oder segelten große Schiffe der Flotte des Kaisers Alexios schwerfällig am Horizont. Die Bilder beruhigten die unsicher gewordenen Seelen, aber sie machten auch deutlich, dass das Heer in der Fremde ganz allein auf sich gestellt war.
Die Morgensonne brannte im Rücken der Pilgerscharen. Peters Schatten lag vor ihm auf dem Weg und glitt nach Westen. Entlang der Küste
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