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Jerusalem

Titel: Jerusalem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns Kneifel
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tragen Mord in sich, Plünderei, Schändung, Brand, Raub und alles Übrige. Ihr solltet Gott auf Knien danken, dass ihr noch lebt.«
    »Sie sind schlimmer als alles, was ich bisher erlebt habe, Fremder.« Die Ältere funkelte ihn an. Breite graue Strähnen mischten sich mit ihrem wirren schwarzen Haar. »Willst du mich oder die da auch vergewaltigen?«
    »Nein«, sagte Rutgar und lehnte sich an die Flanke des Rappen. »Ich will von euch genau wissen, was die Franken getan haben.«
    Er nahm den Weinschlauch vom Sattelhorn, trank einen Schluck und reichte den Ziegenbalg weiter. Die Frauen zögerten zuerst, dann riss ihm die Ältere den Trinkschlauch aus der Hand und schluckte wie eine Verdurstende. Die Frauen blickten mit Tränen in den Augen wild um sich, als könnten sie nicht glauben, dass sie nicht mehr in der Gewalt ihrer Peiniger waren. Sie zitterten und verschütteten Wein. Rutgar wartete, bis sie sich beruhigt hatten und ihn anblickten, sah in ein junges Gesicht, dessen Schönheit vom Erschrecken überdeckt war, und sagte dann:
    »Wir sind viele Tausende, alle sind fremd in eurem Land. Wir wollen ins Heilige Land pilgern. Ein Teil von uns, ein Drittel vielleicht, sind Schänder und Brandstifter. Ich bin ein einfacher, unbedeutender Reiter, der die Gewalt scheut.«
    »Ihr seid Christen, wie wir!«, stieß die Ältere hervor. Die Jüngere starrte ihn schweigend an und gab ihm den schweren Ziegenbalg mit beiden Händen zurück.
    »Wir sind gottgläubige Christen auf dem Weg nach Jerusalem«, antwortete er und verschloss das Mundstück. »Die meisten von uns. Aber überall finden sich Männer, die den Geboten des Herrn nicht gehorchen. Diese Gottlosen haben eure Dörfer überfallen.«
    »Sie waren schlimmer als Seuchen, Mörder und Räuber!«
    Nach einigen Schlucken Wein hatten die Frauen mehr Zutrauen gefasst. Ihre Hände hörten zu zittern auf; es flossen keine Tränen mehr. Er nahm einen Schluck aus dem Weinschlauch, verschloss ihn und knotete ihn neben dem Helm an den Sattel.
    »Die Ritter sind nicht aufzuhalten.« Er hob die Schultern. »Ihr Drang, euch auszuplündern und zu erschlagen, ist größer als ihre Gottesfurcht.«
    »Sie haben uns mit ihren Dolchen gequält und geschnitten«, rief die jüngere Frau. Sie versuchte, ihr Haar zu einem Zopf zu flechten, aber die nassen Strähnen glitten aus ihren unruhigen Fingern. »Unsere Männer - sie haben sie mit Schwerthieben durch die Häuser getrieben - so viele sind erschlagen. Und dann ...«
    »Einmal habe ich ihnen zusehen müssen«, sagte Rutgar leise. Mit hängenden Schultern standen die Frauen vor ihm und blickten sich immer wieder furchtsam um. »Ich glaube euch.«
    »Sie sind grausam. Sie haben ... kleine Kinder getötet. Unschuldige Säuglinge ...!«, rief die jüngere Frau.
    »Zerhackt haben sie die Kinderchen!«, schrie die Ältere und rang die Hände. Die junge Frau hielt sich am Sattel fest, als Rutgar nach dem durchhängenden Zügel griff. »Auf den Rosten und am Spieß haben sie das Fleisch gebraten.«
    Das Grauen schüttelte Rutgar, als er sich vorstellte, wie Gottfried Burel und Fulcher von Orléans gehaust hatten. Er vermochte es nicht zu glauben.
    »Du sagst, dass sie Menschenfleisch gegessen haben?«, fragte er entsetzt.
    Beide Frauen nickten. Die Ältere rief unterdrückt: »Dann sind Seldschuken aus der Stadt gekommen. Es hat viele Kämpfe gegeben. Aber die Türken sind schließlich geflohen.«
    »Vor der rasenden Wut deiner Sippschaft, Fremder!« Die junge Frau bekreuzigte sich. Ihre Haut war um eine Spur heller als die Ragenardas. »Sie haben gekämpft wie die Engel des Satans!«
    »Und sie haben euch alles Wertvolle weggenommen«, sagte Rutgar.
    Er senkte den Kopf und führte das Pferd zwischen den überhängenden Zweigen zum Pfad. Der schmale Weg zwang sie, hintereinanderzugehen. Nach hundert Schritten verließen sie die Schatten und blieben neben einer aufragenden Felsplatte stehen. Rutgar fühlte, wie der Schweiß ausbrach und zwischen seinen Schulterblättern hinunterrann.
    »Geht zurück in eure Dörfer«, sagte Rutgar leise. »Ich kann euch nur sagen, was ich den anderen Dörflern geraten habe: Stellt Wachen auf und flüchtet euch in Höhlen oder in Täler, wenn die Franken kommen. Solche Täler wie dieses hier.«
    »Wir sind nicht aus demselben Dorf, Fremder.«
    »Wie lange müsst ihr laufen?«
    »Bis morgen. Die ganze Nacht. Ich bin Landina aus dem Dorf ...« Die ältere Frau nannte einen Namen, den Rutgar nicht verstand. Ihre

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