Jerusalem
Augen suchten die Umgebung ab, aber auch Rutgar sah weder fränkische Ritter noch Hirten oder andere Bewohner des Landes.
»Ich bin aus Drakon und heiße Chersala.« Die junge Frau schlang einen Knoten in das dünne Ende ihres Zopfes, den sie endlich zu Ende geflochten hatte. »Ich habe im Nachbardorf den Freund meines Bruders gepflegt. Jetzt ist er tot.«
»Ich weiß, dass Drakon ... »Rutgar blickte nach der Sonne und deutete ungefähr nach Nordwesten. »... dass es dort drüben liegt, fast am Meer.«
»Soll ich dich hinführen, Fremder?«
Er überlegte einen Moment. Ihr Vertrauen in ihn hatte etwas Rührendes. Woher wollte sie wissen, ob er nicht den Horden der Plünderer den Weg zu ihrem Dorf verraten würde?
»Ich heiße Rutgar. Ja. Führe mich nach Drakon.«
Er nickte und blickte in das Gesicht Landinas. Er erkannte nur die Spuren des harten Lebens, die Falten und die dunkle Bräunung der Sonne; die Misshandlungen durch die Ritter schienen keine sichtbaren Zeichen zurückgelassen zu haben, trotz der Dolchschnitte, von denen sie gesprochen hatte. Aber der Blick ihrer Augen war hart und verwirrt zugleich.
Landina hob die Schultern und sagte: »Ich kann nicht bleiben, Ritter Rutgar. Ich muss ihnen helfen, die Toten begraben - in meinem Dorf.«
»Du findest den Weg, Landina?«
»Ich bin hier aufgewachsen. Danke, Ritter.«
Sie berührte sein Handgelenk, strich über Chersalas Wange und wandte sich ab. Dann machte sie einige schnelle Schritte, drehte sich zu Rutgar herum und hob lächelnd die Hand. Sie rannte davon; Chersala und Rutgar sahen nur noch ihre bloßen Füße, die Sandkörner vom Pfad hochstauben ließen.
»Wir reiten nach Drakon, Chersala«, sagte Rutgar. »Sitz hinter mir auf.«
Er stellte den Fuß in den Steigbügel und zog sich in den Sattel. Dann streckte er den Arm aus, um der jungen Frau heraufzuhelfen. Sie setzte sich hinter dem Sattel zurecht und hielt sich an Rutgar fest, als der Wallach sich in kraftvollem Trab in Bewegung setzte.
Kapitel XII
A.D. 1096, 20. T AG IM H ERBSTMOND (S EPTEMBER ),
S TRASSE NACH D RAKON ,
A BEND
»Wehe den Heiden, die mein Volk verfolgen! Denn der allmächtige Herr richtet sie und sucht sie heim zur Zeit der Rache.«
(Jdt 16,20)
Rutgar dachte schweigend nach, während das Pferd auf dem kaum erkennbaren Pfad tastend Huf vor Huf setzte, sich und seinen Reitern den Weg ohne Zügelhilfen suchte. Die Ritter und ihre Haufen waren mit ihrer Beute nach Civetot zurückgeeilt, in ihr Lager. Es würde mit dem Teufel zugehen, wenn der Sultan nicht ein Heer zusammenriefe, das größer und mächtiger war als jene Teile des Pilgerheeres, die das Land des Seldschuken verwüstet und dessen Bewohner erschlagen hatten, Untertanen des Basileus ebenso wie Muslime.
Nur wenige Tage würde es dauern, bis die türkischen Truppen von Sultan Arslans Hauptstadt Nikaia nach Norden vordrangen und die gräflichen Ritter straften; die Krieger würden keinen Unterschied machen zwischen Rittern und harmlosen Pilgern. Die einfachen Leute, die Peter dem Eremiten gefolgt waren, um der Gewalt in der Heimat zu entgehen, würden von größerer Gewalt hier in der Fremde wieder eingeholt und vernichtet werden.
»Wenn der Raubzug einträglich war«, sprach Rutgar vor sich hin, »gibt es Braten für die Pilger. Was die Räuber nicht brauchen, verkaufen sie den Seeleuten von den kaiserlichen Schiffen.«
Chersalas Unterarm presste sich gegen seine Brust, ihr Kopf lag an seiner Schulter. Im scharfen Licht des kühlen Morgens war Rutgar fast erschrocken; Chersalas junge Schönheit, die goldfarbenen Augen und die makellose Haut schienen nicht zu einem Bauernmädchen zu gehören, ebenso wenig wie die Sicherheit aller ihrer Bewegungen.
Undeutlich sagte die Frau: »Warum seid ihr gekommen? Wir haben so lange Frieden und Ruhe gehabt.«
»Deus lo vult. Das heißt: Gott will es so.« Er zuckte mit den Schultern. »Ob du es glaubst oder nicht: Es hat Gott so gefallen. Wir sind in seiner Hand. Ich und du ebenso wie alle anderen Menschen.«
Sie antwortete nichts. Ohne zu reden, ritten sie weiter. Erst nach einiger Zeit, als aus dem Pfad ein beschreitbarer Weg geworden war und sich dieser Weg gabelte, sagte Chersala:
»Nimm den Pfad zur rechten Hand, Ritter Rutgar. Sag mir: Euer Lager ist in Kibotos?«
»Ja. Wir nennen es Civetot. Dort warten wir auf Fürsten und Krieger, die den Raubrittern Zucht und Gehorsam beibringen werden.«
»Dort wartet ihr auf den Tod, wenn der Sultan erfährt, was ihr
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