Jesus liebt mich
ließ ihren Kindern ansonsten jede Menge Freiheiten, sich zu entwickeln, Fehler zu begehen, diese zu korrigieren, nur um wieder neue Fehler zu begehen. Sie war also, wenn man den Erziehungsratgebern Glauben schenken darf, eine idealtypische Mutter.
Aber obwohl alles nun etwas mehr Sinn ergab, dachte ich mir: Musste sie unbedingt mit Strafandrohung erziehen? Klar, es gab viele Menschen, die vielen egoistischen Impulsen nicht folgten, weil sie Angst davor hatten, im Jenseits dafür bestraft zu werden – von daher war es wirksam. Aber musste es gleich eine ewige Hölle sein, reichte nicht auch ein allgemeines Fernsehverbot?
Außerdem gab es da noch etwas, das ich nicht verstand: «Musste es das Kreuz sein?»
«Wie bitte?», fragte Emma/Gott überrascht.
«Kreuzigen ist so eine qualvolle Art zu sterben, hätte es nicht auch ein Schlaftrunk getan?»
Jetzt, wo ich Joshua kannte, bewegte mich sein Leiden viel mehr als noch wenige Tage zuvor in der Kirche.
«Macht das ein liebender Vater … eine liebende Mutter …?», fragte ich mit vorwurfsvoller Stimme.
«Nicht ich, sondern die Menschen haben ihn ans Kreuz gebracht», korrigierte mich Emma/Gott in sanftem Ton.
«Aber warum hast du es zugelassen?» Ich ließ da jetzt nicht locker.
«Weil ich euch Menschen den freien Willen gegeben habe.»
Da waren wir wieder bei der Frage aller Fragen, die ich mir schon damals mit vierzehn bei meinem ersten Liebeskummer gestellt hatte: Warum hat Gott den Menschen den freien Willen gegeben, wenn die damit so unglaublich blöde Dinge anstellen?
«Weil …», so hob Emma/Gott an – anscheinend hatte sie meine Gedanken gelesen oder zumindest erraten –, «weil ich euch liebe.»
Ich blickte in ihre Augen, sie schien die Wahrheit zu sagen.
«Oder würdest du ohne freien Willen leben wollen, Marie?»
Bei dieser Frage schossen mir Bilder von den Menschen in Nordkorea, von Scientology-Mitgliedern wie Tom Cruise und anderen willenlosen Zombies durch den Kopf.
«Nein …», antwortete ich.
«Siehst du», lächelte Emma/Gott liebevoll. Sie liebte uns Menschen anscheinend wirklich. Vielleicht hatte sie ja die Menschheit deswegen erschaffen, weil sie jemand vermisste, den sie lieben konnte. Ja, vielleicht war Gott vorher in dem perfekt eingerichteten, von Menschen noch nicht bevölkerten und dadurch auch noch nicht durcheinandergebrachten Universum einsam gewesen. So wie ein Paar, das allein ein unglaublich großes Haus bewohnt, dessen Kinderzimmer noch unbewohnt sind, und das sich daher sehnsüchtig Kinder wünscht, die das Haus mit Gelächter, Gebrüll und mit am Boden festgetretenem Kaugummi erfüllen. Für einen kurzen Augenblick hatte ich Mitleid mit Gott, der einst ganz allein im Universum war und sich sicherlich schrecklich einsam hat fühlen müssen.
«Du bist der erste Mensch, der Mitgefühl mit mir hat», erklärte sie nett schmunzelnd, nahm meine Hand in ihre – sie fühlte sich ganz warm und menschlich an – und ergänzte: «So wie du Mitgefühl mit meinem Sohn hast.»
Sie schien die erste potenzielle Schwiegermutter zu sein, die mich mochte.
«Aber …», hob Emma/Gott wieder an, «wenn du bei ihm bleibst, wird mein Sohn unglücklich.»
«W … wieso?», fragte ich und fürchtete die Antwort.
«Weil er sich dann von mir abwenden muss», erklärte Emma/Gott und rührte dabei nachdenklich in ihrem Tee. Sie wirkte traurig bei dem Gedanken. Diesen einen Menschen, den liebte sie noch mehr als alle anderen, und sie wollte ihn auf gar keinen Fall verlieren.
«Und wenn er sich von mir abwendet …», hob Emma/Gott betrübt wieder an.
«… würde Joshua das unendlich wehtun und sein Herz zerreißen», brachte ich den traurigen Gedanken zu Ende.
«Du bist ein kluges Menschenkind», sagte sie mit ernster Stimme.
«Du befiehlst mir also, mich von ihm fernzuhalten?»
«Nein, das tue ich nicht.»
«Nicht?», fragte ich.
«Du hast einen freien Willen, es ist deine Entscheidung.»
In diesem Augenblick verschwanden um mich herum der Garten, das Landhaus, das Porzellangeschirr, einfach alles, aber vor allen Dingen verschwand Emma Thompson, und ich fand mich in meinen eigenen Klamotten am Uferweg des Malenter Sees wieder, vor dem Dornbusch, der nicht mehr brannte und komplett unversehrt aussah.
Ich dachte über die Entscheidung nach, vor der ich stand:Würde ich bei Joshua bleiben, würde er daran zerbrechen, dass er Gott zuwiderhandelte. Trennte ich mich von ihm, endete mein alberner,
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