Jesus von Nazaret
übersetzt.
In diesen Erzählungen haben es Josef und Maria schwer mit ihrem Sohn Jesus. Dauernd kommen Leute aus dem Dorf und beklagen sich über ihn. Einmal verwandelt er einen Jungen, der ihn beim Spielen gestört hat, in einen verdorrten Baum. Einen anderen Jungen lässt er tot umfallen, nur weil der ihn beim Vorbeilaufen angerempelt hat. Alle Menschen in Nazaret haben Angst vor diesem Kind. Doch keiner traut sich mehr, etwas zusagen, weil Jesus jeden, der sich über ihn beklagt, mit Blindheit straft. Maria und Josef befürchten, dass sie mit diesem seltsamen Kind nicht mehr weiter im Dorf bleiben dürfen und wegziehen müssen. Josef weià sich nicht anders zu helfen und zieht seinen Sohn kräftig am Ohr, und er fordert ihn auf, in Zukunft diesen Unfug zu lassen.
Jesus jedoch bleibt unbeeindruckt. Die Lehrer, die ihn unterrichten wollen, bringt er zur Verzweiflung, weil er als Schüler viel klüger ist als sie, und ein Lehrer, der es wagt, ihn zu schlagen, fällt sogleich ohnmächtig um. Immerhin kann er auch Gutes bewirken. Als ein Junge namens Zenon beim Spielen vom Dach stürzt und tot liegen bleibt, erweckt er ihn wieder zum Leben. Und auch sein Vater Josef profitiert von den Zauberkräften seines Sohnes. Dem Zimmermann sind die zwei Seitenbretter für ein Bett unterschiedlich lang geraten. Jesus bringt das Missgeschick seines Vaters schnell in Ordnung. Er fasst das zu kurze Brett an und zieht es auf die richtige Länge.
Die Logik, die den Geschichten des Thomas zugrunde liegt, ist offensichtlich: Wer so AuÃergewöhnliches gesagt und getan hat wie Jesus, so schloss man, der muss schon als Kind auÃergewöhnlich gewesen sein. Also machte man aus Jesus ein Wunderkind, das nur einen Wunsch oder eine Verwünschung auszusprechen braucht und schon geschieht alles, was es will. Diesem Wunderkindkann man auch nichts mehr beibringen, weil es von Anfang an perfekt und allwissend ist. An diesem Wunderkind ist allerdings auch wenig Sympathisches. Es ist ein kleines Monster, ein altkluger Tyrann, dem man im alltäglichen Leben lieber nicht begegnen möchte.
Dieses sogenannte Kindheitsevangelium des Thomas ist nicht in die Sammlung des Neuen Testaments aufgenommen worden. Und das zu Recht. Es nimmt nämlich nicht ernst, dass Jesus auch ein richtiger Mensch war, und als solcher war er natürlich lernfähig und hat sich entwickelt. Vor allem aber übersehen diese Kindheitsgeschichten vollkommen, dass auch der erwachsene Jesus nie so aufgetreten ist, dass jeder gleich sehen musste, dass er der Gottessohn ist. Im Gegenteil. Jesus lieà seine Umgebung immer über sich im Unklaren. Er benahm sich immer anders, als die Menschen um ihn es erwarteten. Er wollte immer dienen, nicht herrschen. Er war auch kein Zauberer, er war nicht allwissend und allmächtig. Sogar seine engsten Gefährten wurden ihre Zweifel nie ganz los. Bis zuletzt waren sie sich nicht sicher, mit wem sie es eigentlich zu tun hatten. Jesusâ Göttlichkeit blieb immer verdeckt. Er blieb unkenntlich. Zum Glauben an ihn konnte man nicht durch eindeutige Beweise gelangen. Jesus machte sich zu einem Rätsel, und er stellte jeden Menschen, dem er begegnete, vor die Wahl, an ihn zu glauben oder nicht.
So gesehen passt es zu Jesus, dass seine Kindheit sich imVerborgenen abspielte, in einem kleinen, unbedeutenden Dorf in Galiläa, als Sohn einfacher Leute. Trotzdem und dennoch muss an Jesus etwas Ungewöhnliches gewesen sein, etwas, das man auf den ersten Blick nicht gleich wahrnehmen konnte, etwas, das die Menschen eher schockierte als beeindruckte. Davon erzählt die einzige Geschichte, die es in den Evangelien von dem Kind Jesus gibt, die Erzählung des Lukas vom zwölfjährigen Jesus im Tempel. (Lk 2,41-52)
Es dürfte um das Jahr 6 n. Chr. gewesen sein, als Jesus zwölf Jahre alt war. Er stand also kurz vor seiner Bar Mizwa, seiner religiösen Volljährigkeit, die ihn zu einem vollwertigen Mitglied der Glaubensgemeinschaft machte. Zu dieser Zeit kam es in Jerusalem zu bedeutenden Veränderungen. Herodesâ Sohn Archelaus, der von Kaiser Augustus zum Herrscher über Judäa ernannt worden war, hatte sich im Laufe seiner Amtszeit als ein ebenso grausamer und tyrannischer Herrscher entpuppt wie sein Vater. Klagen über Klagen waren in Rom über ihn eingegangen. Nun war Augustus mit seiner Geduld am Ende. Er schickte Archelaus in die Verbannung und stellte
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