Jesus von Nazaret
vielen Ichs. Diese Ichs können die Einflüsterungen von Eltern oder Lehrern, es können die Hochglanzbilder von Frauen und Männern sein, wie sie in der Werbung und in den Medien als Ideal vorgestellt werden. Diese fremden Vor-Bilder, Meinungen und Erwartungen belagern den Kopf eines Menschen, und es kann ein lebenslanger, ein wütender und wilder Kampf sein, sich dieser Stimmen zu erwehren und seine eigene Stimme zu finden, zu bewahren und zu verteidigen.
Die Therapie, die Jesus anwendet, wirkt heute sehr fremd, ja geradezu märchenhaft. Er erlaubt nämlich den Dämonen, in eine Schweineherde zu fahren, und diese Schweineherde stürzt den Steilhang hinab und ertrinkt im Meer. Die vielen Ichs des wilden Mannes werdenalso gründlich entsorgt. So rätselhaft dieser Vorgang einem Menschen des einundzwanzigsten Jahrhunderts vorkommen mag, so hat er sich bis heute vielleicht doch in dem Ausdruck erhalten, dass jemand »die Sau rauslässt«. Oder wissenschaftlicher und seriöser ausgedrückt könnte man auch sagen, der wilde Mann aus Gerasa agiere seine Aggressionen und Ãngste aus. Das bedeutet es nämlich, wenn ein Mensch seine inneren Konflikte und verletzenden Erlebnisse überwindet, indem er sie noch einmal durchlebt und seiner Wut und seinen Enttäuschungen freien Lauf lassen darf â bis er versöhnt und befreit ist.
War Jesus also so eine Art Therapeut? Ganz sicher hat er ein feines Gespür für die Nöte und Sorgen der Menschen gehabt. Aber er war mehr als nur ein Lebensberater. Es ging ihm nicht darum, dass Menschen sich wohlfühlen oder eine positive Lebenseinstellung haben. Sein Angebot war viel radikaler. Die Menschen sollten sich von Grund auf ändern. Sie sollten, so drückt es der Theologe Paul Tillich aus, wieder »ganz werden«, körperlich und seelisch. 75 Aber was heiÃt es, ganz zu werden? Und was ist vorher getrennt, ehe es wieder ganz werden kann?
Der dänische Philosoph Sören Kierkegaard hat diese Frage zu beantworten versucht, indem er den Menschen als ein Beziehungswesen beschrieb. 76 Er steht in Beziehung zu sich selbst, kann sich also selbst betrachten und feststellen, wie er ist oder sein möchte. Gleichzeitig stehter auch in Beziehung zu anderen, mit denen er sich auch vergleichen kann. In diesem ganzen Beziehungsgeflecht lauert für Kierkegaard eine »Krankheit zum Tode«, nämlich die »Verzweiflung«. Die Gefahr besteht darin, dass jemand »verzweifelt er selbst sein will« oder »verzweifelt nicht er selbst sein will«. Beides läuft auf das Gleiche hinaus, denn in beiden Fällen hat ein Mensch falsche Bilder von sich und möchte sich verzweifelt loswerden. Er ist mit sich unzufrieden und will anders sein, als er ist.
Der tödlichen Krankheit der Verzweiflung kann nach Kierkegaard ein Mensch nur entgehen, wenn er sich frei macht von fremden Bildern und Ideen, wenn er mit sich Freundschaft schlieÃt oder, mit einem Wort, wenn er sich selbst erkennt. Diese Selbsterkenntnis ist aber bei Kierkegaard keine nur psychologische Leistung. Hier kommt eine weitere Beziehung ins Spiel, nämlich die Beziehung zu Gott. Erst wenn ein Mensch sich mit Gott versöhnt, kann er auch mit sich selbst einverstanden sein und damit auch Frieden mit der Welt schlieÃen. Die Freundschaft mit Gott ermöglicht wahre Menschlichkeit. Bleibt Gott für einen Menschen eine Drohung, bleibt er auch mit sich selbst und der Welt uneins. Und diese »Verzweiflung«, dieser Mangel an Selbsterkenntnis und seelischem Frieden ist die Quelle von Unheil. Sich nicht zu erkennen, macht böse. Menschen, die sich nicht erkennen, neigen zu religiösem Fanatismus, zu Geiz, zu Konsumdenken. Sie folgen leicht Wahnideen, legenBomben und töten Unschuldige im Glauben, die Welt zu erlösen.
Natürlich haben Jesus und die Evangelisten nicht Wörter wie »Egoismus«, »seelisches Gleichgewicht« oder »Therapie« verwendet. Jesus hat sehr oft vom »Reich Gottes« gesprochen, und um verständlich zu machen, was er damit meint, hat er Gleichnisse erzählt. Den Stoff dafür hat er der Welt entnommen, von der er umgeben war. Die Gleichnisse sind wie ein Stück Heimatkunde und vermitteln ein anschauliches Bild vom Palästina zur Zeit Jesu. Sie handeln von der Arbeit auf dem Feld und in Weingärten, von Herren und Knechten, von Blumen und Vögeln, von armen Witwen und reichen Kornbauern,
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