Jesus von Nazaret
von verlorenen Schafen und Münzen.
Nehmen wir an, es war ein Tag im Frühsommer 29 n. Chr., als Jesus wieder so ein Gleichnis erzählte. Der Evangelist Matthäus berichtet, dass Jesus »das Haus« verlieà und sich an das Ufer des Sees Gennesaret setzte. (Mt 13,1-23) Gleich sammelten sich viele Menschen um ihn, und das Gedränge wurde so groÃ, dass Jesus in ein Boot stieg und sich ein Stück auf den See hinaus fahren lieÃ, um von dort zu den Leuten zu reden.
Experten glauben, dass sich die Jesus-Bewegung zu dieser Zeit in einer Krise befand. 77 Die erste Begeisterung war verebbt. Sich weiterhin zu ihm zu bekennen, wurde eine immer riskantere Sache. Die Schriftgelehrten und Priester hatten sich gegen Jesus gestellt, und er musstedamit rechnen, dass die römischen Behörden bald etwas gegen ihn unternehmen würden. Schlimmer noch war, dass sich viele Erwartungen nicht erfüllt hatten. Nicht wenige seiner Anhänger hatten sich enttäuscht von ihm abgewandt. Nüchtern und von auÃen betrachtet war der »neue Weg« ein ziemlich aussichtsloses Unternehmen: Ein Zimmermann aus einem Kuhdorf in Galiläa, dem Kinder, Frauen, Aussätzige und von Dämonen Besessene nachliefen, der sich mit zwielichtigem Gesindel wie Zöllnern und Huren abgab, der auÃer ein paar Wundern nichts vorzuweisen hatte â was war von dem zu erwarten? Nicht einmal auf seine Jünger konnte er sich verlassen, immer wieder lieÃen sie ihn im Stich. Und wo blieb das »Reich Gottes«, von dem er dauernd redete?
Als Jesus vom Boot aus zu den Leuten am Ufer spricht, will er auf diese Ãngste, Sorgen und Fragen eingehen. Er erzählt von einem Sämann, der aufs Feld geht und Samenkörner ausstreut. Ein Teil davon fällt auf den Weg und wird gleich von den Vögeln aufgefressen. Ein anderer Teil fällt auf felsigen Boden, geht sofort auf, wird aber von der Sonne verbrannt, weil der Saat die Wurzeln fehlen. Eine Handvoll Körner landet in den Dornen und wird überwuchert. Ein kleiner Teil fällt schlieÃlich doch auf fruchtbaren Boden und daraus wird vielfache Frucht.
Die Zuhörer am Seeufer merken natürlich, dass Jesus sie meint und auch von sich selber spricht. Er ist der Sämann,der durchs Land zieht und seine Worte vom Reich Gottes ausstreut. Wie der Sämann kann er nichts weiter machen, als seine Botschaft zu verbreiten. Was daraus wird, liegt nicht mehr in seiner Macht. Er kann nur abwarten, sonst nichts.
Bei manchen, die seine Worte hören, gehen sie schnell verloren. Vielleicht werden sie von anderen Menschen weggepickt wie im Gleichnis die Körner von den Vögeln. Und man bekommt stattdessen zu hören, dass dieses ganze Gerede von einem Reich Gottes nur das kindische Geschwätz von Leuten sei, die es nicht ertragen könnten, dass das Leben nichts weiter ist als ein Kampf ums Dasein, der mit der Geburt beginne und mit dem Tod ende. Mehr nicht.
Bei anderen Leuten lösen die ausgestreuten Worte gleich eine groÃe Begeisterung aus, die aber merkwürdigerweise schnell wieder verfliegt, wenn sich die ersten Schwierigkeiten ergeben oder ein neuer, anderer Sämann auftaucht, für dessen Botschaft man sich begeistern kann. Es ist aber auch möglich, dass Menschen diese Worte durchaus gerne hören, sie ihnen auch zustimmen, aber mit einem gewissen wehmütigen Lächeln. Denn für sie ist es eine traurige Gewissheit, dass die Wirklichkeit eben mit diesen Worten von einem »Reich Gottes« nicht vereinbar ist.
In dieser Wirklichkeit gibt es Pflichten, Aufgaben, Erfordernisse und Sachzwänge, die eine Einstellung, wieJesus sie verkündet, nicht zulassen. Seien wir ehrlich, so sagen sie, wer kann es sich schon leisten, zu existieren wie die Lilien auf dem Felde oder wie die Vögel, die unbeschwert in den Tag hinein leben und sich nicht darum sorgen, was morgen sein wird? Und in der Tat â jeder Tag scheint immer aufs Neue zu beweisen, wie richtig und unvermeidlich die Haltung eines illusionslosen Realismus ist. Und dennoch und trotzdem â kann es sein, dass Sorgen und Zwänge jede Möglichkeit, dass es auch anders sein könnte, schon im Ansatz überwuchern wie Dornenranken einen zarten Sprössling?
Jesus ist der lebende Beweis dafür, dass ein solches Leben möglich ist. Aber damit seine Zuhörer das auch glauben, müssen sie aufhören, nach anderen Beweisen und Zeichen zu fragen. Und vor
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