Jesus von Nazaret
allem müssen sie aufhören, auf eine Erlösung zu warten, die irgendwo in der fernen Zukunft liegt. »Siehe, das Reich Gottes ist mitten unter euch«, antwortete Jesus den Pharisäern, die wissen wollten, wann das Gottesreich denn kommt. Dieses Reich kann winzig, verborgen und unscheinbar sein wie ein Samenkorn, aber es ist da, und es kann eine ungeheure Kraft entfalten, wenn es nur im richtigen Boden heranreift.
Allerdings kann man dieses Wachsen nicht aus sicherer Entfernung beobachten wie ein unbeteiligter Zuschauer. Der Boden, von dem Jesus spricht, das sind die Zuhörer selbst, das sind wir selbst. Nur unter dem Einsatzder eigenen Person können wir erfahren, was das »Reich Gottes« bedeutet und wie es sich vermehrt. Aber wie äuÃert sich dieses »Reich«? Wo sind seine Spuren mitten in der Welt? Und wie kann man sie erkennen?
Der Theologe Paul Tillich hat behauptet, dass es »zwei Seinsordnungen« gibt. 78 Diese Ordnungen sind total verschieden und doch ineinander verwoben. Wenn wir sie beschreiben wollen, so müssen wir nach Tillich von uns selber reden, weil wir, so schreibt er, »in jedem Moment unseres Lebens zu beiden gehören«. Die eine Ordnung, die Tillich die menschliche oder historische nennt, erfahren wir vielleicht dann am intensivsten, wenn wir schwermütig sind. Schwermut ist eine dunkle Kraft, die selbstzerstörerisch sein kann. In ihr zeigt sich aber auch unsere »Verwundbarkeit«. Wer schwermütig ist, ist besonders »wertfühlig« 79 und leidet unter Ungerechtigkeit und Unvollkommenheit.
Vor allem ist es der Gedanke, dass alles Leben vergänglich ist, der schwermütig machen kann. Wir gehen jahrelang in Schulen, lernen und arbeiten, setzen uns in unserem Beruf ein, machen Karriere, ziehen Kinder groÃ, mühen uns ab und kämpfen für unsere Ãberzeugungen. Aber was hat das alles für einen Sinn, wenn es uns nach wenigen Jahren nicht mehr gibt? »Alles Fleisch ist wie Gras«, so drückt das Alte Testament diese Erfahrung aus. »Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt.« (Jes 40,7) Noch drastischer formuliert es eine Figur in einem Buchdes Schriftstellers Botho StrauÃ, die meint: »Wenn wir nicht mehr sind, weht noch lange der Wind ⦠Wir aber versanden. Wir werden zugeweht wie ein ScheiÃhaufen am Strand.« 80
In dieser Klage steckt bereits der Protest. Alles wehrt sich in uns gegen den Gedanken, dass all unsere Mühen und Hoffnungen umsonst sein sollen. Mit dem Tod können wir uns nicht endgültig abfinden, mit dem Vergessen auch nicht, und Unrecht wollen wir nicht einfach hinnehmen. In diesem Protest meldet sich nach Paul Tillich eine andere Ordnung, eine göttliche. In unserem Leben äuÃert sie sich dadurch, dass sie uns immer unzufrieden sein lässt mit dem, was uns gegeben ist. Auch für die Schriftstellerin Ingeborg Bachmann ist ständig der Wunsch in uns wach, »die Grenzen unserer Welt zu überschreiten«. »Innerhalb der Grenzen aber«, so schreibt sie, »haben wir den Blick gerichtet auf das Vollkommene, das Unmögliche, Unerreichbare, sei es der Liebe, der Freiheit oder jeder reinen GröÃe. Im Widerspiel des Unmöglichen mit dem Möglichen erweitern wir unsere Möglichkeiten.« 81
Den Blick auf das Unmögliche und Unerreichbare kann man sehen als ein Samenkorn, das auf den Boden unserer Existenz gefallen ist, und das fruchtbar werden kann, wenn wir es nur bemerken und wachsen lassen. In diesem Sinne hat der amerikanische Soziologe Peter L. Berger dazu aufgerufen, die »Zeichen der Transzendenz«in unserem Alltag wiederzuentdecken. Dafür hält er es für nötig, die »Offenheit der Wahrnehmung« wiederzugewinnen, um die »Spuren der Engel« sehen zu lernen. 82 Solch eine Spur ist für Berger die Tatsache, dass es sogar an unmenschlichen Orten wie den Konzentrationslagern Humor und Hoffnung gegeben hat. Eine weitere Spur sei die Lust am interesselosen Spiel, wie wir sie in Sport, Kunst und Musik erleben. Im zweckfreien Spiel scheint unsere Wirklichkeit wie auÃer Kraft gesetzt, als ob ein Stück Ewigkeit in unsere Welt einbricht.
Dass dieses Erlebnis auch heilend wirken kann, darauf hat der Schriftsteller Michael Ende hingewiesen. In einem in Tokio gehaltenen Vortrag meinte er: »Wenn Sie aus einem guten Konzert kommen, meine Damen und Herren, dann sind Sie nicht klüger geworden, aber Sie haben etwas
Weitere Kostenlose Bücher