Jesus von Nazareth - Band II
seines Fleisches hat er mit lautem Schreien und unter Tränen Gebete und Bitten vor den gebracht, der ihn vom Tod erretten konnte. Und er hat dank seiner Ehrfurcht Erhörung gefunden“ (5,7). In diesem Text ist eine eigenständige Überlieferung über das Geschehen in Gethsemani erkennbar, denn von lautem Schreien und von Tränen ist in den Evangelien nicht die Rede.
Wir müssen freilich bedenken, dass der Verfasser sich offensichtlich nicht bloß auf die Nacht von Gethsemani bezieht, sondern an den ganzen Passionsweg Jesu denkt bis zur Kreuzigung hin, also bis zu dem Augenblick, von dem uns Matthäus und Markus sagen, dass Jesus „mit lauter Stimme“ die Anfangsworte des Psalms 22 ausrief; beide sagen auch, dass Jesus mit einem lauten Ruf verschieden ist; Matthäus gebraucht dabei ausdrücklich das Wort „Schrei“ (27,50). Von Tränen Jesu spricht Johannes beim Tod des Lazarus und dies im Zusammenhang der „Erschütterung“ Jesu, die mit dem gleichen Wort beschrieben wird wie seine Angst in der Ölberg-Überlieferung, die Johannes im Zusammenhang des „Palmsonntags“ erzählt.
Immer geht es um die Begegnung Jesu mit den Mächten des Todes, dessen Abgrund er als der Heilige Gottes in seiner ganzen Tiefe und Schrecklichkeit empfindet. DerHebräer-Brief sieht so die ganze Passion Jesu vom Ölberg bis zum letzten Schrei am Kreuz durchtränkt von Gebet, als ein einziges leidenschaftliches Flehen zu Gott um das Leben gegen die Macht des Todes.
Wenn der Hebräer-Brief die ganze Passion Jesu als ein betendes Ringen mit Gott dem Vater und zugleich mit der menschlichen Natur betrachtet, so zeigt er dabei auf eine neue Weise die theologische Tiefe des Ölberggebets auf. Für ihn ist dieses Schreien und Bitten Vollzug des Hohepriestertums Jesu. Gerade in seinem Schreien, Weinen und Beten tut Jesus das, was des Hohepriesters ist: Er trägt die Not des Menschseins zu Gott hinauf. Er bringt den Menschen vor Gott.
Mit zwei Worten hat der Verfasser des Hebräer-Briefs diese Dimension von Jesu Beten deutlich gemacht. Das Wort „bringen“ (
prosphérein:
vor Gott bringen, emportragen – vgl. Hebr 5,1) ist ein Begriff aus der Terminologie des Opferkults. Jesus tut darin, was im Opfer zuinnerst geschieht. „Er hat sich dargebracht, den Willen des Vaters zu tun“, kommentiert Albert Vanhoye (
Accogliamo,
S. 71). Das zweite Wort, auf das es hier ankommt, sagt, dass Jesus durch Leiden den Gehorsam gelernt habe und so „zur Vollendung gelangt“ sei (Hebr 5,8f). Vanhoye macht darauf aufmerksam, dass der Ausdruck „zur Vollendung gelangen“
(teleioũn)
im Pentateuch, den fünf Büchern Mose, ausschließlich in der Bedeutung „zum Priester weihen“ verwendet wird (S. 75). Diese Terminologie macht sich der Hebräer-Brief zu eigen (vgl. 7,11. 19. 28). So sagt diese Stelle, dass der Gehorsam Christi, das am Ölberg errungene letzte Ja zum Vater, ihn gleichsam „zum Priester geweiht“ hat, dass er gerade darin, in der Gabe seiner selbst, im Hinauftragen des Menschseins zu Gott,im wirklichen Sinn zum Priester geworden ist „nach der Ordnung Melchisedeks“ (Hebr 5,9f; vgl. Vanhoye, S. 74f).
Nun müssen wir aber noch zur Kernaussage des Hebräer-Briefs bezüglich der Bitte des leidenden Herrn vorstoßen. Der Text sagt, dass Jesus zu dem flehte, der ihn vom Tod erretten konnte, und dass er „ob seiner Ehrfurcht erhört worden ist“ (5,7). Aber ist er denn erhört worden? Er ist doch am Kreuz gestorben! So hat Harnack gesagt, hier müsse ein „nicht“ ausgefallen sein, und Bultmann schließt sich ihm an. Aber eine Auslegung, die den Text in sein Gegenteil wendet, ist keine Auslegung. Wir müssen vielmehr versuchen, diese geheimnisvolle Art der „Erhörung“ zu verstehen, um darin auch dem Geheimnis unseres eigenen Heils näherzukommen.
Man kann verschiedene Dimensionen dieser Erhörung erkennen. Eine Übersetzungsmöglichkeit des Textes lautet: „Er ist erhört und aus seiner Angst befreit worden.“ Das würde dem Lukas-Text entsprechen, wonach ein Engel kam und ihn stärkte (22,43). Es wäre dann die Rede von der inneren Kraft, die Jesus im Beten zugewachsen ist, so dass er aufrecht auf die Verhaftung und das Leiden zuzugehen vermochte. Aber der Text meint doch offensichtlich mehr: Der Vater hat ihn aus der Nacht des Todes heraufgeholt, in der Auferstehung ihn endgültig und für immer vom Tod gerettet: Jesus stirbt nicht mehr (vgl. Vanhoye, S. 71f). Aber der Text meint wohl
noch
mehr: Die
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