Jesus von Nazareth - Band II
her die Priester-Aristokratie und die Pharisäer begegneten; mit dieser politischen Betrachtung von Jesu Gestalt und Wirken sei aber genau sein Eigentliches und Neues verkannt worden. Und in der Tat: Jesus hat mit seiner Verkündigung eine Lösung des Religiösen aus dem Politischen vollzogen, die die Welt verändert hat und die wirklich zum Wesen seines neuen Weges gehört.
Dennoch muss man sich vor einer eilfertigen Verurteilung der „bloß politischen“ Betrachtungsweise seiner Gegner hüten. Denn in der bisherigen Ordnung war nun eben beides – das Politische und das Religiöse – gar nicht zu trennen. Das „bloß“ Politische gab es so wenig wie das bloß Religiöse. Der Tempel, die Heilige Stadt und dasHeilige Land mit seinem Volk, das waren keine bloß politischen Größen, aber auch keine bloß religiösen Wirklichkeiten. Wo es um Tempel, Volk und Land ging, waren das religiöse Fundament der Politik und deren religiöse Konsequenzen im Spiel. „Ort“ und „Volk“ zu verteidigen, war letztlich eine religiöse Angelegenheit, weil es um Gottes Haus und um Gottes Volk ging.
Von dieser für die Verantwortlichen Israels grundlegenden, zugleich religiösen und politischen Motivierung muss man freilich das spezifische Machtinteresse der Dynastie von Hannas und Kajaphas unterscheiden, das dann faktisch in die Katastrophe des Jahres 70 hineingeführt und so gerade das bewirkt hat, was zu verhindern ihr eigentlicher Auftrag war. Insofern gibt es in dem Todesbeschluss gegen Jesus eine eigentümliche Überlagerung zweier Schichten: die rechtmäßige Sorge um den Schutz von Tempel und Volk einerseits, das eigensüchtige Machtstreben der herrschenden Gruppe andererseits.
Es ist eine Überlagerung, die dem entspricht, was wir in der Tempelreinigung gefunden hatten. Jesus kämpft dort einerseits, wie wir sahen, gegen eigensüchtigen Missbrauch im Raum des Heiligen, aber die prophetische Gebärde und ihre Deutung im Wort reicht doch viel tiefer: Der alte Kult des steinernen Tempels ist zu Ende. Die Stunde der neuen Gottesverehrung in „Geist und Wahrheit“ hat geschlagen. Der Tempel aus Stein muss abgebrochen werden, damit das Neue, der Neue Bund mit seiner neuen Weise der Gottesverehrung, kommen kann. Das bedeutet aber zugleich: Jesus selbst muss durch die Kreuzigung hindurchgehen, um als Auferstandener der neue Tempel zu werden.
An dieser Stelle kommen wir noch einmal zur Frage der Verflechtung und der Entflechtung von Religion und Politik zurück. Jesus, so sagten wir, hatte in seiner Verkündigung und mit seinem ganzen Wirken ein nichtpolitisches Reich des Messias eröffnet und die beiden bisher untrennbaren Wirklichkeiten voneinander zu lösen begonnen. Aber diese zum Wesen seiner Botschaft gehörende Trennung von Politik und Glaube, von Gottesvolk und Politik war letztlich nur durch das Kreuz möglich: Nur durch den tatsächlich restlosen Verlust jeder äußeren Macht, durch die radikale Entblößung des Kreuzes wurde das Neue Wirklichkeit. Erst im Glauben an den Gekreuzigten, den jeder irdischen Macht Beraubten und so Erhöhten, erscheint auch die neue Gemeinschaft, die neue Weise von Gottes Herrschen in der Welt.
Aber das bedeutet, dass das Kreuz einem göttlichen „Muss“ entsprach und dass Kajaphas mit seiner Entscheidung letztlich zum Vollstrecker des göttlichen Willens wurde, auch wenn seine eigene Motivation unrein und nicht dem Willen Gottes, sondern seinen eigenen Absichten gemäß war.
Johannes hat dieses merkwürdige Ineinander der Vollstreckung von Gottes Willen und der eigensüchtigen Blindheit bei Kajaphas ganz deutlich ausgesprochen. In der Ratlosigkeit der Ratsmitglieder, was man angesichts der von der Jesus-Bewegung ausgehenden Gefahr tun solle, hat er das entscheidende Wort gesagt: „Ihr bedenkt nicht, dass es besser für euch ist, wenn ein einziger Mensch für das Volk stirbt, als wenn das ganze Volk zugrunde geht“ (11,50). Johannes bezeichnet diesen Ausspruch ausdrücklich als Wort aus „prophetischer Eingebung“, das Kajaphasaus seinem Amts-Charisma als Hohepriester und nicht aus Eigenem formulierte.
Aus diesem Wort geht zunächst hervor, dass der versammelte Rat bis dahin vor einem Todesurteil zurückschreckte und nach anderen Auswegen aus der Krise suchte, ohne freilich eine Lösung zu finden. Erst ein theologisch motiviertes Wort des Hohepriesters, von der Autorität seines Amtes her gesprochen, konnte ihre Bedenken zerstreuen und sie grundsätzlich bereitmachen
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