Jesus von Nazareth: Prolog - Die Kindheitsgeschichten (German Edition)
Frage: Es richtet sich nicht nur an Ahas. Es richtet sich auch nicht nur an Israel. Es ist an die Menschheit gerichtet. Das Zeichen, das Gott selbst ankündigt, wird nicht für eine bestimmte politische Lage geboten, sondern betrifft den Menschen und seine Geschichte im Ganzen.
Mussten nicht die Christen dieses Wort als ihr Wort hören? Mussten sie nicht, von dem Wort getroffen, zu der Gewissheit kommen: Das Wort, das immer so eigentümlich dastand und darauf wartete, entschlüsselt zu werden, nun ist es Wirklichkeit geworden? Mussten sie nicht überzeugt sein: In der Geburt Jesu aus der Jungfrau Maria hat Gott uns nun dieses Zeichen geschenkt? Der Immanuel ist gekommen. Marius Reiser hat die Erfahrung, die die christlichen Leser mit diesem Wort gemacht haben, in dem Satz zusammengefasst: „Die Weissagung des Propheten ist wie ein merkwürdig geformtes Schlüsselloch, in das der Schlüssel Christus genau hineinpasst“ ( Bibelkritik, a. a. O., S . 328).
Ja, ich glaube, wir können gerade heute nach allem Ringen der kritischen Exegese ganz neu das Erstaunen darüber teilen, dass ein unbegreiflich gebliebenes Wort aus dem Jahr 733 v. Chr. in der Stunde der Empfängnis Jesu Christi wahr geworden ist – dass Gott uns in der Tat ein großes Zeichen gegeben hat, das alle Welt angeht.
Jungfrauengeburt –
Mythos oder geschichtliche Wahrheit?
Z uletzt müssen wir aber nun in allem Ernst fragen: Ist das, was uns die beiden Evangelisten Matthäus und Lukas auf unterschiedliche Weise und von unterschiedlichen Überlieferungen her über die geistgewirkte Empfängnis Jesu aus der Jungfrau Maria berichten, historische Wirklichkeit, reales, geschichtliches Ereignis, oder ist es fromme Legende, die auf ihre Weise das Geheimnis Jesu aussagen und deuten will?
Vor allem seit Eduard Norden († 1941) und Martin Dibelius († 1947) hat man versucht, die Erzählung von der jungfräulichen Geburt Jesu religionsgeschichtlich abzuleiten, und ist dafür scheinbar besonders in den Zeugungsund Geburtsgeschichten der ägyptischen Pharaonen fündig geworden. Ein zweiter Bereich von verwandten Vorstellungen fand sich im Frühjudentum, wiederum in Ägypten, bei Philo von Alexandrien († nach 40 n. Chr.). Die beiden Vorstellungsbereiche sind allerdings sehr verschieden voneinander. Bei der Darstellung der göttlichen Zeugung der Pharaonen, bei der sich die Gottheit körperlich der Mutter naht, geht es letztlich um die theologische Legitimierung des Herrscherkultes, um politische Theologie, die den König in die Sphäre des Göttlichen rücken und so seinen göttlichen Anspruch legitimieren will. Die Darstellung Philos von der Zeugung der Patriarchensöhne aus göttlichem Samen hat dagegen allegorischen Charakter. „Die Patriarchenfrauen … werden zu Allegorien auf die Tugenden. Als solche werden sie von Gott schwanger und gebären ihren Männern die durch sie verkörperten Tugenden“ (Gnilka, a. a. O., S. 25). Wie weit über die Allegoriehinaus auch konkret gedacht wird, ist schwer auszumachen.
Bei sorgsamer Lektüre ist offenkundig, dass weder im einen noch im anderen Fall wirkliche Parallelen zur Erzählung von der jungfräulichen Geburt Jesu vorliegen. Dasselbe gilt für Texte aus dem griechisch-römischen Bereich, die man als heidnische Vorbilder der Geschichte von der Empfängnis Jesu durch den Heiligen Geist glaubte anführen zu können: die Verbindung von Zeus mit Alkmene, aus der Herakles entstammt sein soll; von Zeus und Danaë, aus der Perseus hervorgegangen sei usw.
Der Unterschied der Vorstellungen ist so tiefgreifend, dass man in der Tat von wirklichen Parallelen nicht sprechen kann. In den Berichten der Evangelien bleiben die Einzigkeit des einen Gottes und der unendliche Unterschied zwischen Gott und Kreatur voll gewahrt. Es gibt keine Vermischung, keinen Halbgott. Gottes schöpferisches Wort allein wirkt Neues. Jesus, der aus Maria geboren wird, ist ganz Mensch und ganz Gott, beides unvermischt und ungetrennt, wie das Glaubensbekenntnis von Chalkedon im Jahr 451 präzisieren wird.
Die Erzählungen bei Matthäus und Lukas sind nicht weiterentwickelte Mythen. Sie stehen ihrer Grundauffassung gemäß fest in der biblischen Tradition von Gott, dem Schöpfer und Erlöser. Ihrem konkreten Gehalt nach aber stammen sie aus Familientradition, sind weitergegebene Überlieferung, die Geschehenes festhält.
Was Joachim Gnilka mit Gerhard Delling als Frage formuliert, möchte ich als einzig wirkliche Erklärung
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