Jesus von Nazareth: Prolog - Die Kindheitsgeschichten (German Edition)
dieser Berichte ansehen: „Sollte das Geheimnis der Geburt Jesu … dem Evangelium nachträglich vorangesetzt sein,oder zeigt sich vielmehr darin nicht, dass das Geheimnis bekannt war? Nur wollte man es nicht zerreden und zu einem verfügbaren Ereignis werden lassen“ (a. a. O., S. 30).
Es scheint mir normal, dass erst nach dem Tod Marias das Geheimnis öffentlich werden und in die gemeinsame Tradition der werdenden Christenheit eingehen konnte. Nun konnte es auch in die Entwicklung des christologischen Lehrgebäudes einbezogen und mit dem Bekenntnis zu Jesus als Christus, als Sohn Gottes verbunden werden – aber nicht so, dass man aus einer Idee eine Geschichte entwickelt, eine Idee in eine Tatsache umgeformt hätte, sondern umgekehrt: Das Geschehene, ein nun bekanntgewordenes Faktum wurde bedacht; es wurde nach Verstehen gesucht. Vom Ganzen der Gestalt Jesu Christi her fiel Licht auf das Ereignis, und umgekehrt wurde vom Ereignis her auch die Logik Gottes tiefer begriffen. Das Geheimnis des Anfangs erleuchtete das Folgende, und umgekehrt half der schon entwickelte Christus-Glaube, den Anfang, seine Sinnhaftigkeit zu begreifen. So wuchs Christologie.
Vielleicht ist es angemessen, an dieser Stelle einen Text zu erwähnen, der die abendländische Christenheit seit frühester Zeit als eine Ahnung des Geheimnisses der Jungfrauengeburt beschäftigt hat. Ich denke an die 4. Ekloge Vergils in seinem Gedichtzyklus Bucolica (Hirtengedichte), der etwa 40 Jahre vor Jesu Geburt entstanden ist. In den verspielten Versen über das Landleben klingt da plötzlich ein ganz anderer Ton an: Die Geburt einer neuen großen Weltordnung vom „Unversehrten“ her (ab integro) wird angekündigt. „ Iam redit et virgo – Schon kehrt wieder die Jungfrau.“ Ein neues Geschlecht steigt vom hohen Himmelherab. Ein Knabe wird geboren, mit dem das „eiserne“ Geschlecht endet.
Was wird da verheißen? Wer ist die Jungfrau? Wer ist der Knabe, von dem die Rede ist? Auch hier – ähnlich wie bei Jes 7,14 – haben die Gelehrten historische Identifizierungen versucht, die aber genauso ins Leere laufen. Was also wird gesagt? Der Vorstellungsrahmen des Ganzen entstammt dem antiken Weltbild: Im Hintergrund steht die Lehre vom Kreislauf der Äonen und von der Macht des Schicksals. Aber diese alten Vorstellungen erhalten eine frische Aktualität durch die Erwartung, jetzt sei die Stunde einer großen Äonenwende da. Was bisher nur ein fernes Schema gewesen war, wird plötzlich Gegenwart. Im Zeitalter des Augustus geht nach all den Erschütterungen durch Krieg und Bürgerkrieg eine Welle der Hoffnung durch die Lande: Nun müsse endlich eine große Periode des Friedens, eine neue Weltordnung aufbrechen.
Zu dieser Stimmung der Erwartung des Neuen gehört auch die Gestalt der Jungfrau, Bild des Reinen, des Unversehrten, des Anfangens ab integro. Und es gehört dazu die Erwartung des Knaben, des „göttlichen Sprosses“ (deum suboles). Insofern darf man vielleicht sagen, dass die Gestalt der Jungfrau und des göttlichen Knaben irgendwie zu den Urbildern menschlicher Hoffnung gehören, die in Augenblicken der Krise und der Erwartung hervortreten, ohne dass konkrete Gestalten im Blick wären.
Kehren wir zurück zu den biblischen Berichten von der Geburt Jesu aus der Jungfrau Maria, die das Kind vom Heiligen Geist empfangen hatte. Ist das nun wahr? Oder sind vielleicht doch archetypische Vorstellungen auf die Gestalten Jesu und seiner Mutter übertragen worden?
Wer die biblischen Berichte liest und sie mit den verwandten Überlieferungen vergleicht, von denen eben kurz die Rede war, sieht sofort den tiefgreifenden Unterschied. Nicht nur der Vergleich mit ägyptischen Vorstellungen, von denen wir gesprochen haben, sondern auch der Traum der Hoffnung, der uns bei Vergil begegnet, führt uns in ganz andersartige Welten.
Bei Matthäus und Lukas finden wir nichts von einer kosmischen Wende, nichts von physischen Berührungen zwischen Gott und Menschen: Es wird uns eine ganz demütige und doch gerade so umstürzend große Geschichte erzählt. Es ist der Gehorsam Marias, der Gott die Tür öffnet. Gottes Wort, sein Geist schafft in ihr das Kind. Er schafft es durch die Tür ihres Gehorsams. So ist Jesus der neue Adam, Neubeginn ab integro – aus der Jungfrau, die ganz dem Willen Gottes zur Verfügung steht. So geschieht Neuschöpfung, die sich aber doch an das freie Ja des Menschen Maria bindet.
Vielleicht kann man sagen, dass die stillen und
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