Jesus von Nazareth: Prolog - Die Kindheitsgeschichten (German Edition)
übersteigt? Kann es sein, dass Gott an einem Menschen so gehandelt hat? Kann es sein, dass Gott den Beginn einer neuen Geschichte mit den Menschen so vollzogen hat? Matthäus hatte zuvor gesagt, dass Josef mit der Frage der rechten Reaktion auf Marias Schwangerschaft „innerlich umgegangen“ war (enthymēthéntos). So können wir uns vorstellen, wie er nun mit dieser ungeheuerlichen Traumbotschaft inwendig ringt: „Josef, Sohn Davids, fürchte dich nicht, Maria als deine Frau zu dir zu nehmen; denn das Kind, das sie erwartet, ist vom Heiligen Geist“ (Mt 1,20).
Josef wird ausdrücklich als Sohn Davids angesprochen, und damit wird zugleich die Aufgabe bezeichnet, die ihm in diesem Geschehen zugewiesen ist: als Träger der Davids-Verheißung für Gottes Treue einzustehen. „Fürchte dich nicht“, diesen Auftrag anzunehmen, der wahrhaft Furcht bereiten kann. „Fürchte dich nicht“ – das hatte der Engel der Verkündigung auch zu Maria gesagt. Mit diesem gleichen Zuruf des Engels ist Josef nun einbezogen in das Geheimnis der Menschwerdung Gottes.
Auf die Mitteilung von der Empfängnis des Kindes durch die Kraft des Heiligen Geistes folgt nun ein Auftrag an Josef: „Maria wird einen Sohn gebären; ihm sollst du den Namen Jesus geben; denn er wird sein Volk von seinen Sünden erlösen“ (Mt 1,21). Josef erhält zusammen mit der Aufforderung, Maria als Frau zu sich zu nehmen, den Auftrag, dem Kind einen Namen zu geben und es so rechtlichals sein Kind anzunehmen. Es ist der gleiche Name, den der Engel auch Maria als Namen des Kindes angegeben hatte: Jesus. Der Name Jesus (Jeshua) bedeutet: Jh W h ist Heil. Der Gottesbote, der im Traum mit Josef spricht, verdeutlicht, worin dieses Heil besteht: „Er rettet sein Volk von seinen Sünden.“
Damit ist einerseits ein hoher theologischer Auftrag erteilt, denn nur Gott selbst kann Sünden vergeben. So wird dieses Kind in unmittelbaren Zusammenhang zu Gott gerückt, direkt mit Gottes heiliger und rettender Macht verbunden. Andererseits könnte aber diese Definition der Sendung des Messias auch als enttäuschend erscheinen. Die geläufige Heilserwartung richtet sich vor allem auf die konkreten Bedrängnisse Israels – auf die Wiederherstellung des davidischen Königtums, auf die Freiheit und Unabhängigkeit Israels und damit natürlich auch auf das materielle Wohlergehen eines weitgehend verarmten Volkes. Die Verheißung der Sündenvergebung erscheint als zu wenig und zu viel zugleich: zu viel, weil in Gottes eigene Vorbehaltssphäre eingegriffen wird; zu wenig, weil an das konkrete Leiden Israels und an seine reale Heilsbedürftigkeit nicht gedacht zu sein scheint.
Im Grunde ist so schon in diesem Wort der ganze Streit um die Messianität Jesu vorweggenommen: Hat er nun Israel erlöst, oder ist nicht alles gleich geblieben? Ist die Sendung, wie er sie gelebt hat, die Antwort auf die Verheißung, oder ist sie es nicht? Sicher entspricht sie nicht der unmittelbaren Erwartung des messianischen Heils der Menschen, die nicht so sehr von ihren Sünden, sondern vielmehr von ihren Leiden, von ihrer Unfreiheit, von der Armseligkeit ihres Daseins sich bedrängt fühlten.
Jesus selbst hat die Frage nach der Priorität in der Erlösungsbedürftigkeitdes Menschen drastisch in den Raum gestellt, als die vier Männer den Gelähmten, den sie der Menschenmenge wegen nicht durch die Tür tragen konnten, vom Dach herunterließen und Jesus zu Füßen legten. Die Existenz des Leidenden als solche war eine Bitte, ein Ruf nach Heil, den Jesus völlig gegen die Erwartung der Träger und des Kranken selbst mit dem Wort beantwortete: „Kind, deine Sünden sind dir vergeben“ (Mk 2,5). Genau das hatten die Menschen nicht erwartet. Genau darum war es ihnen nicht gegangen. Der Gelähmte sollte gehen können, nicht von den Sünden befreit werden. Die Schriftgelehrten kritisierten die theologische Anmaßung von Jesu Wort; der Leidende und die Menschen rundherum waren enttäuscht, weil Jesus die eigentliche Not dieses Menschen zu übersehen schien.
Ich halte die ganze Szene für durchaus bezeichnend im Hinblick auf die Frage nach der Sendung Jesu, wie sie zuallererst im Engelswort an Josef umschrieben wird. Hier wird sowohl die Kritik der Schriftgelehrten wie die stille Erwartung der Menschen aufgenommen. Dass Jesus Sünden vergeben kann, zeigt er nun dadurch, dass er dem Kranken befiehlt, seine Bahre aufzuheben, um geheilt wegzugehen. Aber dabei bleibt die Priorität der Sündenvergebung
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