Jesus von Nazareth: Prolog - Die Kindheitsgeschichten (German Edition)
verworrenen Träume der Menschheit vom neuen Anfang in diesem Geschehen Wirklichkeit geworden sind – in einer Wirklichkeit, wie nur Gott sie schaffen konnte.
Ist es also wahr, was wir im Credo sagen: „Ich glaube … an Jesus Christus, Gottes eingeborenen Sohn, unsern Herrn, empfangen durch den Heiligen Geist, geboren von der Jungfrau Maria“?
Die Antwort lautet ohne Einschränkung: Ja. Karl Barth hat darauf aufmerksam gemacht, dass es in der Geschichte Jesu zwei Punkte gibt, an denen Gottes Wirken unmittelbar in die materielle Welt eingreift: die Geburt aus der Jungfrau und die Auferstehung aus dem Grab, in demJesus nicht geblieben und nicht verwest ist. Diese beiden Punkte sind ein Skandal für den modernen Geist. Gott darf in Ideen und Gedanken wirken, im Geistigen – aber nicht an der Materie. Das stört. Da gehört er nicht hin. Aber gerade darum geht es: dass Gott Gott ist und sich nicht nur in Ideen bewegt. Insofern geht es bei beiden Punkten um das Gottsein Gottes selbst. Es geht um die Frage: Gehört ihm auch die Materie?
Natürlich darf man Gott nichts Unsinniges oder Unvernünftiges oder zu seiner Schöpfung Widersprüchliches zuschreiben. Aber hier geht es nicht um Unvernünftiges und Widersprüchliches, sondern gerade um das Positive – um Gottes schöpferische Macht, die das ganze Sein umfängt. Insofern sind diese beiden Punkte – Jungfrauengeburt und wirkliche Auferstehung aus dem Grab – Prüfsteine des Glaubens. Wenn Gott nicht auch Macht über die Materie hat, dann ist er eben nicht Gott. Aber er hat diese Macht, und er hat mit Empfängnis und Auferstehung Jesu Christi eine neue Schöpfung eröffnet. So ist er als Schöpfer auch unser Erlöser. Deswegen ist die Empfängnis und Geburt Jesu aus der Jungfrau Maria ein grundlegendes Element unseres Glaubens und ein Leuchtzeichen der Hoffnung.
3. KAPITEL
DIE GEBURT JESU
IN BETHLEHEM
Der historische und theologische Rahmen der Geburtserzählung des Lukas-Evangeliums
E s geschah aber in jenen Tagen, dass vom Kaiser Augustus ein Befehl ausging, den ganzen Erdkreis aufzuschreiben“ (Lk 2,1). Mit diesen Worten leitet Lukas seinen Bericht über die Geburt Jesu ein und erklärt, wieso sie in Bethlehem stattgefunden hat. Eine Volkszählung zum Zweck der Steuerveranlagung und -erhebung ist der Grund, weshalb Josef mit seiner ihm angetrauten Frau Maria, die in Erwartung ihres Kindes ist, von Nazareth nach Bethlehem zieht. Die Geburt Jesu in der Stadt Davids steht im Rahmen der großen Weltgeschichte, auch wenn der Kaiser nichts davon weiß, dass diese kleinen Leute seinetwegen in einer schwierigen Stunde unterwegs sind und so scheinbar zufällig das Kind Jesus am Ort der Verheißung geboren wird.
Für Lukas ist der weltgeschichtliche Zusammenhang wichtig. Erstmals wird „der ganze Erdkreis“, die „Ökumene“ in ihrer Ganzheit erfasst. Erstmals gibt es eine Regierung und ein Reich, das den Erdkreis umspannt. Erstmals gibt es einen großen Friedensraum, in dem die Güter aller erfasst und in den Dienst des Ganzen gestellt werden können. Erst in diesem Augenblick, in dem eine Rechtsund Gütergemeinschaft auf breitem Raum besteht und eine universale Sprache einer kulturellen Gemeinschaft die Verständigung im Denken und Handeln ermöglicht hat, kann eine universale Heilsbotschaft, kann ein universaler Heilsbringer in die Welt hereintreten: Es ist in der Tat „Fülle der Zeit“.
Der Zusammenhang zwischen Jesus und Augustus reicht aber tiefer. Augustus wollte nicht nur irgendein Herrscher sein, wie es ihn vor ihm gegeben hatte und nachher wieder geben würde. Die aus dem Jahr 9 v. Chr. stammende Inschrift von Priene lässt uns verstehen, wie er gesehen und verstanden werden wollte. Dort wird gesagt, der Tag der Geburt des Kaisers habe „der ganzen Welt ein anderes Ansehen gegeben: Sie wäre dem Untergang verfallen, wenn nicht in ihm, dem nun Geborenen, ein gemeinsames Glück aufgestrahlt wäre … Die Vorsehung, die über allem Leben waltet, hat diesen Mann zum Heil der Menschen mit solchen Gaben erfüllt, dass sie ihn uns und den kommenden Geschlechtern als Heiland (sōtēr) gesandt … Der Geburtstag des Gottes hat für die Welt die an ihn sich knüpfenden Evangelien heraufgeführt. Von seiner Geburt muss eine neue Zeitrechnung beginnen“ (vgl. Stöger, a. a. O., S. 74).
Von einem solchen Text her ist klar: Augustus wurde nicht nur als Politiker, sondern als eine theologische Gestalt gesehen, wobei unsere Trennung von Politik und
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