Jesus von Nazareth: Prolog - Die Kindheitsgeschichten (German Edition)
es auch sammeln und hüten wie ein Hirt seine Herde. Denn der Herr wird Jakob erlösen und ihn befreien aus der Hand des Stärkeren“ (Jer 31,10 f).
Das ganze Kapitel stammt wahrscheinlich aus der frühen Zeit von Jeremias Werk, als der Untergang des assyrischen Reiches einerseits und die Kultreform von König Joschija andererseits die Hoffnung auf eine Wiederherstellung des Nordreiches Israel aufleben ließ, das weitgehend von den Stämmen Josef und Benjamin – den Kindern Rachels – geprägt gewesen war. Bei Jeremia folgt deshalb auf die Klage der Stamm-Mutter sogleich ein Wort des Trostes: „So spricht der Herr: Verwehre deiner Stimme die Klage und deinen Augen die Tränen! Denn es gibt einen Lohn für deine Mühe – Spruch des Herrn: Sie werden zurückkehren aus dem Feindesland …“ (Jer 31,16).
Bei Matthäus finden wir zwei Änderungen gegenüber dem Propheten: Zur Zeit des Jeremia wurde das Grab der Rachel lokalisiert an der benjaminitisch-ephraimitischen Grenze, also an der Grenze zum Nordreich, zum Stammesgebiet der Rachelsöhne – übrigens in der Nähe der Heimat des Propheten. Noch in alttestamentlicher Zeit war die Lokalisierung des Grabes nach Süden, in die Gegend von Bethlehem gewandert, und dort ist es auch für Matthäus.
Die zweite Änderung besteht darin, dass der Evangelistdie tröstende Verheißung der Heimkehr weglässt; nur die Klage bleibt bestehen. Die Mutter ist immer noch nicht getröstet. So steht das Prophetenwort, die Klage der Mutter, ohne die Antwort des Trostes bei Matthäus wie ein Schrei zu Gott selbst, wie ein Ruf um den Trost, der nicht gegeben wurde und immer noch aussteht – ein Ruf, auf den in der Tat nur Gott selbst antworten kann. Denn der einzige wahre Trost, der mehr ist als Rede, wäre die Auferstehung. Nur in der Auferstehung wäre das Unrecht überwunden, das bittere Wort „Sie sind dahin“ aufgehoben. In unserer Zeit der Geschichte bleibt der Schrei der Mütter an Gott stehen, doch zugleich stärkt uns die Auferstehung Jesu in der Hoffnung auf den wahren Trost.
Auch der letzte Abschnitt der matthäischen Kindheitsgeschichte endet wieder mit einem Erfüllungszitat, das den Sinn des ganzen Geschehens aufschließen soll. Noch einmal erscheint groß die Gestalt des heiligen Josef. Zweimal erhält er Weisung im Traum und erscheint so wieder als der Hörende und Unterscheidungsfähige, als der Gehorsame und zugleich auch als der Entschlossene und mit Sachverstand Handelnde. Zuerst wird ihm gesagt, dass Herodes gestorben und damit für ihn und die Seinen die Stunde der Heimkehr gekommen sei. Diese Heimkehr wird mit einer gewissen Feierlichkeit dargestellt: „Er zog ein ins Land Israel“ (2,21).
Aber sogleich holt ihn auch die tragische Lage Israels in seiner historischen Stunde ein: Er erfährt, dass von den Söhnen des Herodes der grausamste, Archelaus, in Judäa regiert. So kann dort – das heißt in Bethlehem – nicht der Wohnort der Familie Jesu sein. Im Traum erhält Josef nun die Weisung, nach Galiläa zu ziehen.
Dass Josef nach der Feststellung der Probleme in Judäa nicht einfach aus Eigenem weiterzog in das von Antipas weniger grausam regierte Galiläa, sondern vom Engel dorthin gesandt wurde, soll zeigen, dass die Herkunft Jesu aus Galiläa der göttlichen Geschichtsführung entspricht. In Jesu öffentlichem Wirken wurde der Hinweis darauf, dass er aus Galiläa stamme, immer zugleich als Beweis dafür angesehen, dass er nicht der verheißene Messias sein könne. Matthäus tritt dieser Argumentation schon hier kaum merklich entgegen. Er greift dann das Thema zu Beginn des öffentlichen Wirkens Jesu wieder auf und begründet von Jes 8,23–9,2 her, dass gerade dort das „helle Licht“ aufgehen werde, wo das „Land der Finsternis“ ist – im ehemaligen Nordreich, im „Land Sebulon und Naftali“ (vgl. Mt 4,14–16).
Aber Matthäus hat es mit einem noch konkreteren Einwand zu tun, dass nämlich über dem Ort Nazareth keine Verheißung stand: Von dort konnte der Retter gewiss nicht kommen (vgl. Joh 1,46). Dem hält der Evangelist entgegen: „Josef ließ sich in einer Stadt namens Nazareth nieder. Denn es sollte sich erfüllen, was durch den Propheten gesagt worden ist: Er wird Nazoräer genannt werden“ (2,23). Damit will er sagen: Die bereits zur Zeit der Niederschrift des Evangeliums historisch gewordene Bezeichnung Jesu als Nazoräer, die aus seiner Herkunft folgte, weist ihn als Erben der Verheißung aus. Matthäus bezieht sich hier
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