Jesus Von Nazareth - Und Die Anfaenge Des Christentums - Ein SPIEGEL-Buch
Jesu, drei oder vier Nägel, mit denen seine Hände und Füße ans Holz geschlagen waren, und auch das Schild mit der Inschrift »Jesus von Nazareth, König der Juden« in jenem Bezirk Jerusalems aufgestöbert haben, in dem Jesus gekreuzigt und begraben wurde: auf dem Berg Golgatha und in seiner Nähe. Ebendort hatte der römische Kaiser Hadrian im 2. Jahrhundert n. Chr. einen Prunktempel für seine Lieblingsgottheit Venus errichten lassen. Helena und Konstantin ließen über der Zisterne, in der das Kreuz (neben zwei weiteren Kreuzen) gefunden wurde, eine prachtvolle Basilika bauen – der Venustempel wurde abgerissen. Kirchenbau als Kulturpolitik, schon damals.
Das Kreuz ließ Helena der Legende nach zerteilen: Ein Drittel nahm sie mit nach Rom, einen Teil schickte sie ihrem Sohn nach Konstantinopel, und der Rest blieb in Jerusalem. Das Kreuz, bestehend aus einem relativ groben Pfahl mit Querbalken, sollte nie mehr zusammengefügt werden, seine Fragmente wurden über die ganze Welt verteilt. Magisches Denken heidnischer Provenienz war damals auch im Spiel: Die Nägel ließ Helena teilweise in die Trense einarbeiten, die Konstantin seinem Lieblingsross anzulegen pflegte. Andere Nagelteile verstärkten den Helm, den ihr Sohn bei Feldzügen trug; die Metallstücke sollten schützen vor Sturz und Feind. Ein Nagelfragment ist im Bamberger Dom gelandet, wo es in einem prunkvollen Reliquiar aufbewahrt wird, das wie eine Kombination aus Kelch und Kerzenständer aussieht. Andere Nagelteile oder -partikel, die von einem als echt geltenden Nagel abgeschliffen wurden, gerieten in Städte wie Aachen, Köln, Florenz, Krakau, Mailand oder Wien. Die ziemlich kompletten Nägel, über die Siena und Rom verfügen, genießen den Ruf, authentisch zu sein; zumindest sind sie keine offensichtlichen Fälschungen.
Im frühen 13. Jahrhundert beklagte die französische Abtei von Saint-Denis den Verlust eines Nagelstückchens, und auch eine landesweite Suche konnte es nicht aufstöbern. Das deprimierte besonders den passionierten Reliquiensammler König Ludwig IX ., »der Heilige« (1214 bis 1270). Zur Kompensation konnte er einige Jahre später jene Dornenkrone Christi kaufen, die im 11. Jahrhundert aus dem Heiligen Land nach Konstantinopel geraten war. Sie bestand aus einem Binsenreif, in den ein gutes Dutzend Zweige von einem Dornbusch der Gattung Zizyphus vulgaris eingeflochten waren. Diese Dornbuschgattung kommt im Gebiet um Jerusalem häufig vor; die Dornen werden bis zu fünf Zentimeter lang.
König Ludwig, der dem damals notleidenden Konstantinopel auch zwei Teile des Heiligen Kreuzes abkaufte, ließ etwa 60 Dornen, die sich wohl während des Transports aus dem Reif gelöst hatten, auf die Kirchen und Kathedralen seines Reiches verteilen. Wunderbare Dornvermehrung: Im 19. Jahrhundert wurden in 90 europäischen Kirchen und Kathedralen zwischen Brügge und Prag 193 Dornen registriert. Die mutmaßliche Dornenkrone wurde die Gründungsreliquie der Pariser Palastkirche Sainte-Chapelle. Sie wird heute in der Kathedrale Notre-Dame de Paris aufbewahrt. Helena soll auch die Knochenreste der Heiligen Drei Könige, die Kaiser Barbarossa dann im 12. Jahrhundert von Mailand nach Köln entführt hat, aus Palästina mitgebracht haben; ebenso einen Rock, den Jesus getragen haben soll. Er wird als hochverehrter »Heiliger Rock« im Dom der Stadt Trier aufbewahrt, wo Helena einige Jahre lebte. Wie genau Helena bei ihrem Palästina-Abenteuer an die Gebeine der legendären drei Weisen aus dem Morgenland gelangt ist, weiß man nicht. Doch dass ihr Sohn Konstantin diesen Schatz einige Jahre nach ihrem Tode dem Mailänder Bischof Eustorgius geschenkt hat, ist bekannt.
Nach der Belagerung Mailands schleppten dann Soldaten Kaiser Barbarossas die heiligen Knochen der »ersten christlichen Könige«, wie es damals hieß, als Kriegsbeute über die Alpen ins deutsche Reichsland, wo sie der Kölner Erzbischof und Kanzler Barbarossas, Rainald von Dassel, 1164 in den Kölner Dom überführen ließ. Erst 40 Jahre später wurde die kostbare Hülle für diese Knochen fertiggestellt, ein prachtvoller Schrein in der Form einer Basilika – die größte Goldschmiedearbeit des europäischen Mittelalters. Der Schrein, das Prunkstück des Kölner Doms, enthält von Stoffresten umwickelte Schädel, Oberschenkelknochen, Schienbeine, Rippen und andere Skelettfragmente von drei auffällig unterschiedlich alten Männern des 1. Jahrhunderts, aber auch Knochen des Märtyrers
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