Jesus Von Nazareth - Und Die Anfaenge Des Christentums - Ein SPIEGEL-Buch
Fußabdrücke Jesu oder ein Knochen vom Finger, den der ungläubige Apostel Thomas in die Wunde des noch einmal Wiedergekehrten legen durfte.
Spätestens seit dem 6. Jahrhundert wurden in allen möglichen Größen spezielle Kästchen, Täschchen, Kapseln zum Umhängen, Gürtelschnallen mit Hohlräumen und verschiedenartige gläserne Behälter angefertigt, damit fromme Leute wie Gotteskrieger ihre höchsteigenen Reliquien zur persönlichen Schadensabwehr mit sich herumtragen konnten. Angebliche Blutstropfen von Jesus wurden 1204 von plündernden Kreuzfahrern in Konstantinopel gefunden und mitgenommen; sie waren eingeschlossen in ein Kristallfläschchen, das sich in der Heiligen Kapelle des Kaiserpalasts am Bosporus befand – in derselben sakralen Schatzkammer wurden die Eisenspitze der Heiligen Lanze, die Dornenkrone, zwei Stücke vom Kreuz, zwei Kreuzigungsnägel, ein Jesusgewand, der angebliche Kopf Johannes’ des Täufers und zahlreiche andere Reliquien aufbewahrt. Reiche Beute, die die Kreuzritter auf dem Reliquienschwarzmarkt versilberten – kirchenoffiziell war der Handel mit dieser Ware verboten.
Abenteuerlich ist vor allem die Geschichte der Kreuzsplitter und Kreuzigungsnägel. Sie bildet die Ouvertüre der christlichen Reliquienoper. Sie blühte auf im Hochmittelalter. Im Spätmittelalter erreichte die Lust am Sammeln von Reliquien endgültig das Stadium der Hysterie. Allein der sächsische Kurfürst Friedrich der Weise, der Beschützer Martin Luthers, verfügte 1513 über 5262 heilige Splitter, Tropfen und Partikel, eine ziemlich unübersichtliche Reliquienkollektion, deren Bestand sieben Jahre später auf nicht weniger als 18 970 Stücke angewachsen war. Martin Luther verachtete den ganzen »Reliquienkram«.
Armreliquar mit mumifiziertem Finger
des Heiligen Nikolaus
(Domschatz zu Halberstadt)
STEFFEN SCHELLHORN/IMAGO
Die Geschichte der Nägel und Splitter beginnt mit der Reise der Heiligen Helena nach Jerusalem, etwa von 325 bis 327. Helena war die Mutter des römischen Kaisers Konstantin. Beim Aufbruch nach Jerusalem war sie mindestens 75 Jahre alt. Von Bithynien am Bosporus bis Palästina mussten rund 2000 Kilometer Distanz gemeistert werden, und dies in der holprigen, damals üblichen zweirädrigen Kutsche. Die resolute Greisin reiste mit einem imposanten Tross aus Soldaten, Dienern, Köchen, Kutschern, Kundschaftern und Kennern der besten Routen. Helena war eine unerschrockene Aufsteigernatur: Aufgewachsen in einfachsten Verhältnissen wurde die Schankwirtin die Konkubine des späteren Kaisers Constantius, während dieser als Heerführer auf dem Balkan unterwegs war. Mit ihm zeugte sie Konstantin – ihren Lebenstrumpf, der wohl 272 oder 273 in der Garnisonsstadt Naissus im heutigen Serbien zur Welt kam. Dass Constantius Helena 289 verstieß, um aus Karrieregründen eine Stieftochter des Kaisers Maximian zu heiraten, hat den Aufstieg Konstantins nicht verhindert. Als der schließlich Kaiser wurde, verlieh er der Mutter den Ehrentitel »Augusta«, die Erhabene.
Die Reise nach Palästina inszenierte Helena vor allem als Werbefeldzug für ihren Sohn – sie verteilte unterwegs großzügig Geld und Kleidung und andere Geschenke; doch es war zugleich eine Art Wallfahrt zum Ursprungsland ihrer beider Religion. Sie beteiligte sich mit großem Eifer an der Christianisierung des Römischen Reichs, das durch die verbindende Glut des neuen Glaubens vor dem drohenden Zerfall bewahrt werden sollte. Konstantin und Helena beeindruckte an der aufstrebenden Religion besonders deren »historischer Charakter«, so die Geschichtswissenschaftler Carsten Peter Thiede und Matthew D’Ancona in ihrem Buch über »Das Jesus-Fragment«.
Sofern Gottesbezug mit konkreten, damals erst drei Jahrhunderte zurückliegenden Ereignissen im römischen Herrschaftsbereich aufgefrischt werden konnte, enthielten materielle Zeugnisse der Religionsgründer eine zusätzliche Überzeugungskraft; sie waren ein willkommenes Machtpotential für den kaiserlichen Schutzherrn dieses Glaubens. Konstantin hatte, nach einer im Zeichen des Christengottes gewonnenen Schlacht gegen seinen Rivalen Maxentius, in seinen Provinzen nicht weniger als 1800 Bischöfe inthronisiert. So ging es denn auf Helenas Reise ganz praktisch um die Auffindung der materiellen Zeugnisse des neuen Glaubens, zumal um die Auffindung des Kreuzes (»inventio crucis«).
Sie und ihre Arbeiter sollen tatsächlich, beraten vom örtlichen Bischof Macarius, um 326 das Kreuz
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