Jesus Von Nazareth - Und Die Anfaenge Des Christentums - Ein SPIEGEL-Buch
Gregor von Spoleto.
Bei ihrer Schatzsuche am Berg Golgatha, die mit den Bauarbeiten für diverse Kirchen einherging, stieß Helena der Tradition zufolge auch auf die »lancea« Christi – jene »eiserne Lanze« des römischen Legionärs Longinus, »mit der unserem Herrn die Seite geöffnet worden war«. So formuliert es der Kreuzzugsteilnehmer, Ritter und Chronist Robert de Clari in seinem Bericht über die Plünderung der kaiserlichen Reliquienkapelle von Konstantinopel 1204. In dieser Kapelle lagerte auch die legendäre »lancea«. Neben der Dornenkrone und den Kreuzfragmenten gehört diese Lanze zu den bedeutendsten Reliquien des Abendlandes. Als »Heilige Lanze« soll sie einst Konstantin dem Großen zu Diensten gewesen sein; es war, wie man lange glaubte, dieser Speer, der über den Burgunderkönig Rudolf im 10. Jahrhundert in den Besitz des ersten »deutschen Königs« Heinrich I. gelangte. Heinrichs Sohn Otto I. hat behauptet, nur dem magischen Schutz des Speers verdanke er den Sieg über die Ungarn in der Schicksalsschlacht auf dem Lechfeld anno 955.
Durch die Ottonen wurde die Lanze, in Verbindung mit der ihr aufgepfropften Kreuzreliquie, eines der wichtigsten Machtinsignien des Heiligen Römischen Reichs. Und es waren die Habsburger, die den »Schicksalsspeer«, wie die Lanze auch genannt wurde, vor dem Zugriff Napoleons in Sicherheit brachten. Das metallene Werkzeug des Fatums glänzt heute im Schatz der Wiener Hofburg. Mittlerweile steht aber fest, dass es sich bei dem Speer um eine karolingische Flügellanze aus dem 8. Jahrhundert handelt. Die Spitze der vorgeblich »echten« eisernen Lanze, mit der Longinus tatsächlich zugestochen haben könnte, befand sich nach der Eroberung von Konstantinopel 1453 im Besitz des muslimischen Sultans Mehmed II .; dessen Sohn hat sie 1492 dem römischen Papst gleichsam zurückerstattet. Sie wird noch heute im Petersdom gezeigt, unweit der Kirche Santa Croce, wo ein Teil der hölzernen Kreuzestafel, die inzwischen einige Wissenschaftler für authentisch halten, aufbewahrt wird. Den zugehörigen Lanzenschaft hatte im 13. Jahrhundert König Ludwig, der »Heilige«, aus Konstantinopel erworben. Er ging in den französischen Revolutionswirren verloren.
Die Splitter vom Heiligen Kreuz, die die Kaisermutter auf einer turbulenten Schiffsreise von Jerusalem nach Rom und später wieder nach Konstantinopel transportieren ließ, wurden Anfang des 13. Jahrhunderts vor allem durch Kreuzritter, die sich damit ein Zubrot verdienten, über etliche Länder verstreut. Es waren so viele heilende Hölzer, dass noch im 16. Jahrhundert der Gelehrte Erasmus von Rotterdam stichelte, aus den diversen Splittern des Kreuzes könne man leicht ein ganzes Schiff bauen. Auch solche Hölzer, die angeblich kurz an »Das Wahre Kreuz« herangehalten worden waren, wurden verehrt – als »Berührungsreliquien«.
Etliche Reliquien wurden auf diese Art vervielfacht oder zerstückelt und in der Christenwelt häppchenweise verteilt. Das geschah auch mit Körperreliquien von Heiligen, eine Praxis, die im hohen und späten Mittelalter immer beliebter wurde; sie legitimierte sich durch die schon im 4. Jahrhundert kursierende Idee, dass dort, wo ein Teil des heiligen Leichnams sei, der Heilige selbst virtuell anwesend sei (»Ubi est aliquid ibi totum est«). So beehren zum Beispiel auch Körperteile des Evangelisten Markus, des ersten Bischofs von Alexandria, als heilige Knochen weitverstreute Kirchen in Venedig, Kairo, Rom, Paris, Cambrai, Tournai, Köln und Reichenau-Mittelzell (aus dem Schatz des ehemaligen Reichenauer Benediktinerklosters).
Über die Heilige Elisabeth von Thüringen (1207 bis 1231), deren Leichnam tagelang kein Zeichen der Verwesung gezeigt haben soll, wird berichtet, von ihrem toten Körper hätten Reliquiensammler Nägel der Hände und Füße, ja sogar einen ganzen Finger und »die Spitzen ihrer Brüste« getrennt, »um sie als Reliquie aufzubewahren«, wie der Chronist Caesarius von Heisterbach schreibt. Die theologisch naheliegende Frage, wie denn am Jüngsten Tag bei der leiblichen Auferstehung die diversen Leibesstückchen zusammenfinden könnten, hat die Reliquien-Verehrer nicht weiter irritiert. Der Allmächtige, tröstete man sich, werde es schon richten.
Während die katholische Kirche den Reliquienstatus der von Helenas Helfern gefundenen Kreuzigungsnägel anerkennt, hat der Vatikan einer anderen angeblichen Hinterlassenschaft des Gekreuzigten diesen Status bis heute
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