Jesus Von Nazareth - Und Die Anfaenge Des Christentums - Ein SPIEGEL-Buch
polizeilicher Übermacht sein Schwert zieht und dem Knecht des Hohepriesters namens Malchus das rechte Ohr abhaut. Warum er anschließend weder aufgespießt noch verhaftet noch sonst irgendwie zur Rechenschaft gezogen wird? Noch so ein Rätsel, das jeden verstandesorientierten Bibelleser zur Verzweiflung treiben muss. Jesus heilt das Ohr einfach wieder, tadelt den ungestümen Missetäter und lässt sich widerstandslos abführen zur Hinrichtung.
Da zeigt sich, dass Simon Petrus wirklich die Kirche symbolisiert: wortgewaltig und kleinmütig, großzügig und menschlich schwach. Erst brüstet er sich mit seiner besonderen Loyalität dem Chef gegenüber, dann kriegt Petrus es mit der Angst zu tun und verleugnet ihn dreimal, ehe der Hahn kräht. »Und er ging hinaus und weinte bitterlich«, heißt es lakonisch bei Matthäus. Reue empfindet in der nächsten Szene der Passionsgeschichte auch derjenige Jünger, den alle Evangelisten stets als Letzten nennen, weil er »das Allerletzte« darstellt: Judas, der seinen Meister an die Obrigkeit »verriet« – oder sollte man sagen: »überantwortete«? Über solche Spitzfindigkeiten streiten die Scholaren seit Jahrzehnten und sublimieren damit, je nach Temperament, die Empörung oder die Verzweiflung darüber, dass hier eine sensationelle Nachricht von den wortgewaltigen Autoren des Neuen Testaments auf gänzlich unbefriedigende Weise wiedergegeben wird.
Das muss man sich mal vorstellen: Der umschwärmte, hellseherische Guru spricht von Tod und Verrat, gibt Hinweise auf den Täter (die Hand in der Schüssel), beschuldigt bei Matthäus sogar einen der zwölf namentlich, und anschließend passiert – nichts. Kein Aufschrei der Empörung, keine Schlägerei, keine Messerstecherei? Und wenn schon keine Fakten, warum dann nicht wenigstens ein paar Emotionen? »Ich war sprachlos«, könnte Bartholomäus sagen, und Philippus würde mitteilen, dass er Judas schon immer für einen falschen Hund gehalten habe. Stattdessen: Nichts? Jeder Lokalredakteur einer Provinzzeitung würde sich im Angesicht eines derart tölpelhaften Manuskripts die Haare raufen. Wenn er bibelfest wäre, könnte er dem unfähigen Reporter noch Jesu Worte zurufen, wie sie Markus kolportiert: »Es wäre für diesen Menschen besser, wenn er nie geboren wäre.«
Geurteilt wurde natürlich auch so: Judas hat es zum Inbegriff des Erzbösen geschafft. Der »Judaslohn« bleibt stehender Begriff für unsauber verdientes Geld. Dass der Verräter bei Matthäus Zweifel bekommt und sich erhängt, was in der Kirche lang als Todsünde galt, passt ins Bild. Niemand hat das Grausen der mittelalterlichen Christen vor dem Mann und seiner Tat so wunderbar in Stein gemeißelt wie im 12. Jahrhundert Gislebertus an einem Kapitell der Saint-Lazare-Kathedrale in Autun (Burgund). Da hängt Judas mit grässlich verzerrtem Mund und aufgerissenen Augen am Baum, von links und rechts machen sich zwei Dämonen über ihn her. Die Kunstgeschichte kennt unzählige Judas-Darstellungen, eine brutaler als die andere. Leonardo da Vinci geht noch vergleichsweise glimpflich mit ihm um.
Für Andrew Lloyd Webber und seinen Librettisten Tim Rice war Judas, neben dem Titelhelden natürlich, der Mittelpunkt des glänzenden Musicals »Jesus Christ Superstar« aus dem Jahr 1971. Webber ärgert sich über das viele religiöse Gequatsche, er liebt den klugen, charismatischen Menschen Jesus, nicht den Sohn Gottes. Er will Action sehen, für die Armen, gegen die Römer. »Du hast mich ermordet«, schreit der Webber-Judas in den Himmel, ehe er sich erhängt – die Anklage der gewissensgeplagten Kreatur gegen die höhere Gewalt dröhnt mit unverminderter Wucht durch zwei Jahrtausende bis zu uns.
Judas’ Beinamen Iskariot interpretieren die einen als eine Ableitung des hebräischen »isch qerijot«, Mann aus Kerijot. Tatsächlich gab es in Judäa ein Dorf Kerijot; sollte Judas wirklich von dort stammen, hätte er schon von der Herkunft her eine Sonderrolle eingenommen: als einziger Judäer unter lauter Galiläern. Andere lesen in Iskariot das lateinische Wort sicarius, was – abgeleitet von sica (Dolch) – so viel bedeutet wie Meuchelmörder. Judas wäre also ein besonders fanatischer Angehöriger der Zeloten gewesen, einer jener Dolchträger, die Attentate auf Römer und deren Kollaborateure begingen. Warum aber schloss er sich dann dem Wanderprediger an, der doch von den letzten Dingen redete und vom politischen Aufstand abriet?
Als fehlgeleiteten,
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