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Jesus von Texas

Jesus von Texas

Titel: Jesus von Texas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: DBC Pierre
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ist, jede Woche vier Komma drei Morde ereignen. Vier Komma drei Morde ereigneten sich dort Woche für Woche, bevor die Verbrechen geschahen, die ihm zur Last gelegt werden, und vier Komma drei Morde pro Woche geschahen auch während seiner angeblichen Schreckensherrschaft. So auch jetzt, während er hier mit uns im Gerichtssaal ist - vier Komma drei Morde pro Woche.« Er dreht sich um und schaut jedem Geschworenen einzeln ins Gesicht. »Wie wir feststellen werden, meine Damen und Herren, existierte bis zu dem Zeitpunkt, als sein Gesicht zum ersten Mal auf unseren Fernsehbildschirmen zu sehen war, keine einzige Anschuldigung gegen meinen Mandanten. Von diesem Moment an jedoch wurde ihm so gut wie jeder Mord in Central Texas und darüber hinaus zugeschrieben. Das bedeutet, alle regulären Mörder haben Urlaub gemacht, und Vernon Gregory Little hat währenddessen beinahe Alt gesamte Quote publik gewordener Morde eigenhändig erfüllt - Morde, die teilweise fast zeitgleich an entgegengesetzten Enden des Staates begangen wurden, mit unterschiedlichen Waffen. Bitte stellen Sie sich die Frage: Wie hat er das angestellt? Mit einer Fernbedienung? Ich glaube kaum.«
    Mein Anwalt spaziert zu meinem Käfig. Er betrachtet mich nachdenklich, umfaßt einen der Gitterstäbe und wendet sich wieder den Geschworenen zu.
    »Was ich versuchen werde, Ihnen im Laufe dieses Verfahrens zu demonstrieren, meine Damen und Herren, ist das Ausmaß menschlicher Beeinflußbarkeit. An jedem Schauplatz tauchen die Vertreter der Medien auf, und immer haben sie das Bild eines einzigen Verdächtigen schon parat: das des Angeklagten. Und es sind nicht etwa die Vertreter irgendwelcher Medien. Nein, es sind Angestellte des Mannes, der am meisten von den Vorgängen profitiert. Ein Mann, der auf der unnachgiebigen Verfolgung dieses einzelnen, unglückseligen Teenagers eine ganze Industrie, ja ein wahres Imperium aufgebaut hat. Ein Mann, der bis zu den tragischen Ereignissen vom 20. Mai ein Niemand war. Ein Mann, meine Damen und Herren, den Sie im Verlauf dieses Prozesses kennenlernen und selber beurteilen werden.«
    Brian schlendert zu den Geschworenen rüber, schiebt sich die Ärmel ein Stück hoch und lehnt sich vertraulich über die Brüstung. Seine Stimme senkt sich. »Wie konnte das passieren? Ganz einfach. Im grellen Licht der Kameras wurde einer verstörten, trauernden Öffentlichkeit das Angebot unterbreitet, auf den größten Prime-Time-Zug seit O. J. Simpson aufzuspringen. ›Ist das der Verdächtige?‹ hat man die Leute gefragt. Das Gesicht kommt ihnen bekannt vor. Sie haben es mit Sicherheit irgendwo gesehen, vor kurzem sogar. Das Resultat ist, daß selbst schwarze Zeugen schwarzer Morde in schwarzen Stadtteilen in diesem sechzehnjährigen weißen Schuljungen einen Mordverdächtigen erkennen.«
    Er läßt einen Blick über die Geschworenenbank schweifen und verengt seine Augen.
    »Liebe Mitbürger, Sie werden feststellen, daß dieser sanfte und schüchterne junge Mann, der nie zuvor mit den Gesetzen in Konflikt geraten war, das Pech hatte, ein überlebendes Opfer der Tragödie von Martirio zu werden. Die Ereignisse haben ihn zu einem schwierigen Zeitpunkt der fragilen Entfaltung seiner Männlichkeit überrascht - und überrollt. Er war nicht in der Lage, seiner Trauer adäquaten Ausdruck zu verleihen, und er konnte den Zerfall um ihn herum nicht verarbeiten. Ich werde Ihnen demonstrieren, daß er nur einen einzigen, wenn auch entscheidenden Fehler gemacht hat, und zwar den, nicht schnell und laut genug › Unschuldig!‹ zu schreien.«
    Beim letzten Satz spreizt der Staatsanwalt seine Beine weit auseinander - ich hoffe, es ist nicht zu obszön, das zu erwähnen. Mir hat aber gefallen, was Brian gesagt hat. Ich schau mich im Saal um und werde plötzlich erfüllt von dem feierlichen Gedanken, daß hier die Gerechtigkeit Einzug halten wird, genau wie es sein soll, wie der Weihnachtsmann im Winter. Das ist ein besonderer Ort - ein Ort der Wahrheit. Klar sind alle selbstgefällig, das weiß ich auch, aber vielleicht sind sie's deshalb, weil sie darauf vertrauen, daß die Gerechtigkeit siegt. Zum Beispiel die Gerichtssekretärin oder Stereotypistin, wie sie jemand genannt hat, keine Ahnung, wozu sie die brauchen - ob die ihren Kopf wohl deshalb so in den Nacken wirft, weil sie auf den Sieg der Gerechtigkeit vertraut, oder nur, weil sie vor dem Gestank der Wörter zurückweicht, die sie mit ihrer abgesägten Schreibmaschine auf das saubere Papier

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