Jesus von Texas
daß jemand in deiner Wunde bohrt, indem er wimmert wie ein süßes Hündchen. Und warum? Nicht, weil sie die Wunde nicht sehen könnten, sondern weil sie wissen, das es ihnen niemand abkaufen würde. Da kannst du vor zwölf noch so gutwilligen Menschen stehen, alle mit irgendeiner Wunde im Rücken, in der jeder, der ihnen nahesteht, nach Lust und Laune rumstochern kann - sie würden es nicht zugeben. Sie würden vergessen, wie's wirklich läuft, und in dieses Fernsehfilmschema verfallen, wo alles auf der Hand liegen muß. Garantiert.
Die Lady mit der abgesägten Schreibmaschine spricht über die Richterbank hinweg mit einem alten Wärter. »Gott ja, ganz sicher. Das ist derselbe Katalog, den wir hatten, meine Mädchen und ich.«
»Ist das zu glauben«, sagt er, »derselbe, he?« Seine Zunge schiebt Spucke im Mund umher. Das bedeutet, er stellt sich vor, was sie eben gesagt hat, was auch immer das war. Er rangiert also ein bißchen die Spucke umher, stellt sich das kurz vor und sagt dann: »Denken Sie dran, die Richterin hat auch ihre Mädchen.«
»Da können Sie sicher sein«, sagt die Tippse.
Sie drehen sich zu mir, um mich mit Blicken zu durchbohren. Die Blicke der Tippse sind mit Kleenex umhüllt, ich nehm an, damit sie nicht mit Scheiße beschmiert werden. Ich glotze nur auf meine Nikes. So langsam find ich das alles echt nicht mehr lustig. Das Justizsystem ist nicht für Leute wie mich gemacht, soviel steht fest; mehr so für eindeutiger gepolte Leute wie die in den Filmen. Ganz im Ernst, wenn nicht noch heute die Fakten anrollen, wenn sich nicht alle entschuldigen und mich nach Hause schicken, dann scheiß ich auf die Kaution und schlag mich über die Grenze. Gegen jede Chance. Ich werd in der kühlen Tiefe der Nacht verschwinden und mit den Motten querfeldein summen, mitsamt meinen naiven Erkenntnissen und meinen ollen Höschenträumen. Ihr werdet schon sehen.
»Erheben Sie sich«, sagt ein Gerichtsbeamter.
Eine Lady mit strahlenden Augen, kurzen grauen Haaren und Bifokalbrille rutscht hinter den höchsten der Tische. Auf dem Schild steht Richterin Helen E. Gurie. Ihr Drehstuhl knarrt höflich beim Hinsetzen. Der Thron Gottes.
»Vaine«, sagt sie, »das ist einer von Ihren Fällen, den wir hier haben, richtig?«
»Ch-chrrr. Es gibt einen Verdächtigen, Frau Richterin.«
Abdini schnellt hoch. »Wir beantragen eine Voruntersuchung, Euer Ehren.«
Die Richterin schielt über ihre Brillengläser hinweg. »Eine Voruntersuchung? Immer schön der Reihe nach, ich möchte Sie beide auf die Familiengesetzgebung des Staates Texas hinweisen - hier gilt das Jugendstrafrecht. Vaine, ich gehe davon aus, daß Sie die entsprechenden Bestimmungen zur Klagezustellung befolgt haben.«
»Ch-hmm.«
»Und warum liegt dann der Anklageschrift kein Verhörprotokoll bei?«
In dem Augenblick geht hinter mir die Saaltür auf. Sheriff Porkorney knirscht herein und nimmt seinen Hut ab. Vaine erstarrt zur Salzsäule.
»Wir hatten gehofft, daß ein gewisses Beweisstück vorher auftaucht, Ma'am«, sagt sie.
»Sie hatten gehofft, der Beweis würde auftauchen? Was genau hatten Sie gehofft - daß er einfach so vorbeigeflattert kommt? Wie lange ist dieser junge Mann schon in Gewahrsam?«
»Ch...« Vaines Blick huscht zum Sheriff hinter ihr. Der steht einfach nur mit verschränkten Armen an der Tür und ist sehr still.
»Gütiger Himmel!« Richterin Gurie greift sich ein Blatt von ihrer Arbeitsfläche. »Sie wollen Anklage erheben?« Sie nimmt ihre Brille ab und fixiert Vaine. »Und alles, was Sie haben, sind Fingerabdrücke?«
»Wenn ich erklären dürfte, Ma'am, daß ...«
»Deputy, ich bezweifle, daß Sie mit einem Satz Fingerabdrücken eine Anklagekammer zusammentrommeln können. Sie werden sie nicht mal aufwecken.«
»Es ist mehr als einer, Euer Ehren.«
»Es spielt keine Rolle, wie viele Sie haben, sie sind alle vom gleichen Beweisstück, dem Turnbeutel. Also, ganz ehrlich. Wenn es eine Waffe wäre, dann vielleicht ...«
»Ma'am, seit vergangener Nacht stehen uns neue Informationen zur Verfügung, also dachte ich ...«
»Das Gericht ist nicht daran interessiert, was Sie dachten, Vaine. Wenn Sie schon diesen ganzen verworrenen Ablauf in Gang setzen, dann wollen wir verdammt noch mal etwas hören, das Sie ganz genau wissen.«
»Na ja, dann hat der Junge noch gelogen, und er ist beim Verhör davongelaufen ... Ch...«
Richterin Gurie faltet ihre Hände zusammen wie eine Unterstufenlehrerin. »Vaine Millicent Gurie - ich
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