Jesus von Texas
hoch und sagt: »Zeit runterzugehen.« Dann dreht er mich in Richtung Tür, aber ich schaue mich um, weil ich weiß, daß das noch nicht der letzte Schlag war. Alles hätte anders werden können, wenn ich zeitiger buchstabieren gelernt hätte, wenn ich als Kind einfach nur etwas schlauer und normaler gewesen wäre. So aber war ich fast sieben, als ich endlich Alamo buchstabieren konnte. Und die Fingerzeichnung, die ich mit fünf für Mom gemalt habe, trägt keinen Titel. Alles, was man darauf sieht, sind ein paar Strichmännchenleichen und eine Monsterladung roter Farbe.
»Sie sehen also, er war ein ganz normaler kleiner Junge, in fast jeder Beziehung.«
»Erheben Sie sich.« Der Gerichtsbeamte umkurvt meinen Computer und einen Haufen anderes Zeug, das sich auf dem Boden des Gerichtssaals angesammelt hat. Moms Höschenkatalog hat einen eigenen Tisch. Sogar meine alte Fingerzeichnung ist da, dafür hat sich scheinbar niemand für meinen Nike-Karton interessiert. Die Gerichtsluft hat plötzlich was Ungesundes, Halsabschnürendes an sich.
»Mr. Abdini«, sagt die Richterin. »Ich nehme an, Ihr Klient weiß, daß gegen ihn ein Verfahren eröffnet wird; ich möchte Sie auf die verschiedenen Prozeßhandlungsmöglichkeiten hinweisen, die hier bestehen könnten.«
Abdinis Kopf zuckt hoch. »Euer Ehren?«
»Die Angelegenheit wird bis zur Anklageerhebung fortgeführt. Sie sollten vielleicht langsam was unternehmen.«
»Ma'am«, sage ich, »die ganze Sache kann mit einem Anruf bei meinem Zeugen geklärt werden - mein Lehrer und so ...«
»Psst«, zischt Abdini.
»Herr Anwalt, bitte informieren Sie Ihren Klienten darüber, daß er nicht unter Anklage steht. Und weisen Sie ihn darauf hin, daß es nicht Aufgabe dieses Gerichts ist, die Arbeit des Sheriffs zu erledigen.« Sie lehnt sich einen Moment lang zurück und wendet sich dann an Vaine.
»Deputy - Sie haben doch die Alibizeugen überprüft, oder?«
»Frau Richterin, ich fürchte, die letzte Zeugin, Miss Lori-Bethlehem Donner, ist heute früh verschieden.«
»Verstehe. Was ist mit dem Lehrer des Jungen?«
»Marion Nuckles hat nichts über den Aufenthaltsort des Verdächtigen zum Zeitpunkt der Tragödie erwähnt.«
»Er hat ihn nicht erwähnt, oder Sie haben nicht danach gefragt?«
»Seine Ärzte meinen, er wird frühestens Ende März nächsten Jahres in der Lage sein zu sprechen. Er hat nicht mehr als ein paar Worte gesagt.«
»Verdammt noch mal, Vaine. Was für Worte?«
»›Eine zweite Waffe.‹«
»Großer Gott.«
Vaine nickt und preßt ihre Lippen zusammen. Sie kann es sich nicht verkneifen, mir dabei einen Blick zuzuwerfen.
»Euer Ehren, wir beantragen Kaution«, sagt Abdini.
»Ach ja?« sagt Gurie. »Frau Richterin, der Junge hat sich schon einmal durch Flucht entzogen, obwohl er da noch gar nicht in Schwierigkeiten steckte ...«
Abdini wirft seine Arme zur Seite. »Aber unser junger Mann hier hat Familienstruktur, alles vorhanden zu Hause - warum sollter abhaun?«
»Es ist eine Familie mit nur einem Elternteil, Frau Richterin. Ich glaube nicht, daß eine auf sich gestellte Frau den Willen eines Jungen im Teenageralter beugen kann.« Sie sollte mal die beschissene Wunde in meinem Rücken sehen.
»Das ist tragisch - wirklich tragisch«, sagt die Richterin. »Jedes Kind braucht die starke Hand eines Vaters. Gibt es keine Möglichkeit, den Vater zu kontaktieren?«
»Ch er ist mutmaßlich verstorben, Euer Ehren.«
»Du meine Güte. Und die Mutter des Jungen hat es nicht geschafft, heute hier zu erscheinen?«
»Nein, Ma'am - ihr Auto ist in der Reparatur.«
»Ach herrje«, sagt Richterin Gurie. »Ach herrjemine.« Sie lehnt sich in ihrem Thron zurück und formt mit den Fingern eine Kirche. Dann wendet sie sich mir zu. »Vernon Gregory Little, ich werde den Antrag auf Freilassung gegen Kaution zu diesem Zeitpunkt nicht abweisen. Ebensowenig aber werde ich dich entlassen. Im Lichte der hier dargelegten Tatsachen und entsprechend meiner Verantwortung für diese Gemeinde belasse ich dich bis zur Erstellung eines psychiatrischen Gutachtens in Untersuchungshaft. Unter Berücksichtigung entsprechender Empfehlungen dieses Gutachtens werde ich deinem Antrag möglicherweise später stattgeben.«
»Beng«, schlägt der Hammer auf den Tisch. »Erheben Sie sich«, sagt der Beamte.
Irgendwo bei den Zellen läuft heute abend Fahrstuhlmusik. Sie gibt mir das beschissene Gefühl, aufgebahrt und neben meinen Freunden begraben zu werden. Das Lied geht so: »I
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