Jesuslatschen - Größe 42
schäumenden Brandung empor. Oben auf dessen
schroffer Spitze hat sich eine Vegetation entwickelt, mehr geht bald nicht. Das
Ganze wirkt wie eine überdimensionale Naturvase.
Auf dem Hügel nahe der Stadt steht eine
verlassene Hausruine, ganz ohne Dach. Das aus alten Ziegeln gemauerte Fenster
im Format 16:9, bietet beim Näherkommen eine fantastische Fernsicht zum Meer
und über eine Stadt. Man könnte meinen, das gemauerte Gebilde ist ein
Natur-Fernseher. Heute ist das Bild, wetterbedingt, etwas diesig, dafür aber
garantiert flimmerfrei.
Es macht Freude, die vorhandenen Dinge und
Umstände in der Fantasie umzufunktionieren, einfach auch anders zu sehen. Dort
mit den Dingen der Natur zu verweilen und zu sehen, dass alles schon geschaffen
ist. Was nun folgt, ist absolutes Kontrastprogramm zu dem gerade Erlebten.
Sicher zahlt man in diesem Garten keinen Eintritt, dafür klingen aber, im
übertragenen Sinne, reichlich „Münzen“ am Ausgang. Einige Meter vor mir sehe
ich, wie ein Mann fünf Hunde aus einem Jeep scheucht, von den Hunden gleicht
nicht einer dem anderen. Alle kläffen mich kurz darauf wild an und zeigen ihre
Zähne. Einer der Meute kaut auf einem zerbissenen Schafskopf herum. Die Augen
des längst toten Schafes starren mich an, ich starre entgeistert zurück. Der
surrealistische spanische Filmemacher Luis Buñuel hätte diese Szene nicht
eindringlicher gestalten können.
Diese unübersichtliche Situation jagt mir
einfach Angst ein. Der Besitzer hält seine Hunde scharf zurück. Zeigt aber
keinerlei Mimik, welche mir zu erkennen gibt, ich sei willkommen. Mein an
diesem Tag sicher etwas wüstes Aussehen, wird der Reaktion meines Gegenübers
nur zu gerecht. Die Art, wie sich der Mensch mir gegenüber verhält,
widerspiegelt meine heute landstreicherhafte Verfassung. Das Wetter drückt mein
Gemüt und zeigt sich sicherlich auch im Gesichtsausdruck. Was soll er denn
denken, wenn so eine zweifelhafte Gestalt aus einer Hausruine mitten in der
Landschaft kommt?
Ich suche nach so einem schönen Wegabschnitt
einfach nur betreten das Weite.
Der Weg hinab in die Stadt Laredo, sollt
eigentlich über jahrhundertealtes holpriges Originalpflaster führen. In
Wirklichkeit ist es ein von einem Monstertrecker total zerwühlter und
zerfurchter Schlammweg. Eingesperrt gehört dieser wüste Bauer, der
höchstwahrscheinlich für diese Kraterlandschaft verantwortlich ist.
Auf den lehmigen Furchen bewege ich mich so,
als wären Bleischuhe an den Füßen, wenn man hierbei noch von Bewegung sprechen
kann. Endlich in Laredo angekommen, fühle ich mich einen halben Meter größer
und zwanzig Kilo schwerer.
Übertrieben gebückt, gehe ich durch das
historische Stadttor, direkt in eine typisch spanische Altstadt. In den engen
Gassen hängt tropfnasse Wäsche an den Häusern. Knatternde Mopeds dröhnen sich
durch die Straßen. Die Stadt ist belebt, stolze Señoritas halten an einigen der
zahlreichen kleinen Geschäfte kurz inne betrachten die Schaufensterauslagen, um
dann für längere Zeit der bunten Faszination einer Boutique einzutauchen.
Heraus kommt dann meist eine andere Frau mit einer steifen Tüte in der Hand und
einem sanften Lächeln im Gesicht.
Mich interessiert ab jetzt einfach nur noch,
wo ich eine trockene Unterkunft bekomme. Das „ Oficina de Información de Turistica “
ist schon geschlossen. Durch die verspiegelte Türscheibe versuche ich mit
einer, für mich unsichtbaren, Señora zu kommunizieren. Sie sieht mich zwar aus
ihrem Büro heraus, aber ich kann sie von außen nicht sehen. Die Situation
erinnert an den unterbrochenen Sichtkontakt im ICE beim Abschied in Naumburg
auf dem Bahnsteig. Die innere Stimme aus der Spiegelwand versucht mir mit
einigen klaren Worten eindringlich zu vermitteln, dass die Touristinformation nun geschlossen ist. Finito , Sense, Feierabend. Das
klingt geradezu nach abwimmeln. Meine innere Stimme fordert geradezu, mich
gegen diese Behandlung zu wehren. Die Stimme hinter dem sprechenden Spiegel
soll einfach begreifen, dass ich heute in einer Pilgerherberge schlafen möchte.
Erneut versuche ich, wenigstens einen winzigen Schatten zu erhaschen. Nichts
tut sich. Mein eigenes verzerrtes Spiegelbild stets vor Augen. So siehst du
also aus, Rüdiger Paul.
In Gedanken tausche ich den Blick auf die Tür
mit dem verspiegelten Plattencover der Uriah Heep LP
„Look at yourself “. Wie oft
haben sich im Spiegel dieser Plattenhülle meine eigenen Blicke getroffen. Wie
fremd war ich mir
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