Jim Knopf und die Wilde 13
vorüber. Darum folgt mir bitte, ich werde vorausgehen.“
Während sie durch das Ebenholztor des
Palastes schritten, flüsterte die kleine Prinzessin Jim und Lukas zu: „Ihr
werdet euch wundern, wie das alte, halbverfallene Elefantenhaus, wo der Drache
vor einem Jahr untergebracht wurde, jetzt aussieht. Mein Vater hat es nämlich
inzwischen umbauen und herrlich ausschmücken lassen.“ Und so war es. Schon von
weitem, während sie sich durch den kaiserlichen Park dem Elefantenhaus
näherten, sahen sie es durch die Bäume glänzen und gleißen. Und dann standen
die beiden Freunde staunend vor dem prunkvollen Bau und vergaßen beinahe
einzutreten. Der Kaiser hatte den Stall mit seiner großen Kuppel in eine
vielstöckige Pagode mit Hunderten und Aberhunderten von kleinen spitzen
Türmchen verwandeln lassen, die den großen Hauptturm umgaben. Alles was
herrlich mit Figuren und Ornamenten und klingenden Glöckchen verziert.
Schließlich rissen sich die beiden
Freunde von dem märchenhaften Anblick los und traten hinter dem Kaiser durch
eine goldene Pforte ins Innere des Gebäudes. Tiefe Stille umfing sie. Einen
Augenblick dauerte es, bis ihre Augen sich an das vielfarbige Dämmerlicht
gewöhnt hatten, das aus unzähligen bunten Ampeln strahlte. Auch im Inneren des
Gebäudes waren alle Wände bis zur Decke hinauf mit unvergleichlich prächtigem
Zierat bedeckt, der im Halbdunkel geheimnisvoll blinkte. Aus der hohen Kuppel,
in deren Mitte eine runde Platte aus Bernstein als Fenster eingelassen war,
fiel ein einzelner goldgelber Lichtstrahl schräg in den dämmerigen Hintergrund
der Halle und beleuchtete dort die Gestalt des verwandelten Drachen.
Lukas und Jim waren im ersten
Augenblick ganz und gar außerstande, in ihm jenen Drachen wiederzuerkennen, den
sie in Kummerland besiegt hatten. Erst nach und nach vermochten sie gewisse
Ähnlichkeiten festzustellen. Seine Schnauze war nicht mehr so lang und spitz,
auch der häßliche, hervorstehende Zahn war verschwunden. Der ganze Kopf ähnelte
jetzt dem eines Löwen, allerdings nur sehr entfernt. Der Körper war viel
schlanker und noch ein wenig länger geworden, desgleichen der Schwanz, den er
nach Katzenart um sich herumgelegt hatte. Und seine einstmals so abscheuliche
Schuppenhaut war nun über und über mit geheimnisvollen Zeichen und Mustern
bedeckt. Er lag da wie ein riesenhaftes Standbild, den Kopf reglos auf seine
beiden Vordertatzen gelegt, und das Licht spielte glitzernd und funkelnd über
seinen goldenen Leib.
Jim hatte Lukas an der Hand gefaßt, und
so standen sie schweigend und in ehrfürchtigem Staunen. Daß sie beide durch
ihren Sieg über den Drachen und dadurch, daß sie ihn nicht getötet hatten, die
Urheber dieser wunderbaren Verwandlung waren, das konnten sie kaum glauben. Und
doch war es nicht zu bezweifeln.
Ein wenig hinter den beiden Freunden
stand der Kaiser mit Li Si und Ping Pong. Die Prinzessin hatte den winzigen
Würdenträger auf den Arm genommen und die Hand ihres Vaters ergriffen.
Plötzlich verstärkte sich das Funkeln und Glitzern auf der Haut des Drachen,
der ein ,Goldener Drache der Weisheit’ geworden war. Ein seltsames Klingen ließ
für einen Augenblick die Luft erzittern. Langsam, unendlich langsam richtete
der Drache seinen Oberkörper auf, so daß er nun auf die Vordertatzen gestützt
dasaß. Er schlug seine Augen auf, die wie zwei dunkle Smaragde von grünem Feuer
glommen, und richtete seinen Blick auf die beiden Freunde.
Jim faßte unwillkürlich Lukas’ Hand
fester.
Wieder verging eine Weile, und dann
tönte es plötzlich wie der dunkle Klang eines großen Bronzegongs, leise und
doch alles durchdringend, aus dem Innern des „Goldenen Drachen der Weisheit“:
„Seid ihr da, ihr, die ich meine Herren nenne?“
„Ja“, antwortete Lukas, „hier sind
wir.“
„Es ist gut, daß ihr gekommen seid“,
fuhr der Drache fort zu reden, „denn es ist an der Zeit, daß ihr tut, was euch
aufgetragen ist. Das Rätsel soll gelöst werden.“
„Wissen Sie denn...“, Lukas hatte
eigentlich „Frau Mahlzahn“ sagen wollen, aber plötzlich hatte er das Gefühl,
daß man diesen Drachen nicht mehr so ansprechen konnte. Darum fragte er: „Weißt
du denn, ,Goldener Drache der Weisheit’, was wir vorhaben?“
„Ich weiß“, antwortete der Drache, und
es schien einen Augenblick so, als spiele ein Lächeln um seine Mundwinkel, „ich
weiß alles, was ihr fragen wollt.“
„Und wirst du uns auf alles Antwort
geben“, wagte nun auch
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