Jimmy, Jimmy
erinnern, aber ich muss Mam und Dad schon um sechs Uhr geweckt haben. In Tränen aufgelöst. Ich hatte unter dem Weihnachtsbaum im Wohnzimmer nachgesehen – und kein Dreirad gefunden. Dad trug mich dann noch mal hin. »Da, siehst du? Da ist es, Liebes«, sagte er, und ich schaute es an, aber der Schock saß noch so tief und ich war so todmüde, dass ich das glänzende rote Dreirad einfach nicht sah. Erst als Dad mich draufsetzte, wurde mir klar, dass mir der Weihnachtsmann meinen großen Wunsch doch erfüllt hatte.
So ähnlich war es, als ich mich an dem Freitagmorgen an den Frühstückstisch setzte. Ich war vollkommen abwesend nach zu wenig Schlaf, bis Mam mit der Teekanne kam und sich neben mich setzte.
»Guck dir den kleinen Schuft an«, sagte sie. »Von mir nimmt er keinen Bissen, und bei Jimmy isst er den ganzen Teller leer.«
Ich schaute von meinem Müsli auf, und da saßen sie: Tom auf Dads Schoß, und beide grinsten mich an. Dann kam, mufflig und schlaftrunken wie immer, Sean, und ihm fielen fast die Augen aus dem Kopf.
»Da ist ja auch Rip Van Winkle«, sagte Dad.
Als Sean kleiner war, hasste er es, so genannt zu werden. Wenn er damals beim Frühstück überhaupt was sagte, wares: »Was guckst du?« Und Dad konnte es sich nie verkneifen, ihn gerade morgens ein bisschen aufzuziehen. Aber heute freute sich Sean über die Begrüßung und wollte die Gelegenheit, die sich ihm bot, nutzen.
»Heute Nachmittag spielen wir Fußball, okay?«, sagte er.
»Okay«, sagte Dad. »Vielleicht steig ich auch auf den Hometrainer.« Und an mich gewandt: »Wie wär’s, bist du dabei?«
»Alles paletti«, sagte ich.
Buchhaltung mag ich nicht so sehr. Unglücklicherweise ist unser Lehrer, Mr Lynch, ein junger Mann mit einer zu seinem Fach passenden, unglaublich langweiligen Stimme. In der letzten Stunde am Freitagnachmittag ist das die hundertprozentige Einschlafgarantie. Oder wie Jill sagt: »Klasse Gesicht, ein Jammer um die Stimme.«
Im Augenblick frage ich mich allerdings, ob sie nach der Szene, die wir uns früher am Tag in der Cafeteria geliefert haben, jemals wieder mit mir spricht. Jedes Mal wenn Mr Lynch sich zur Tafel umdreht, starrt sie mich an, als hätte ich zwei Köpfe.
Wir waren in der großen Pause, und der Lärm in der Cafeteria war nicht auszuhalten. Schallendes Gelächter, Stühle, die über den Boden scharrten, und alle redeten immer lauter, damit man sie nur ja hörte. Dazu Jill wieder einmal im Tragik-Modus. Der Haussegen bei den O’Brians hing immer noch schief. Ich nuckelte an einem Orangensaft und wünschte mir, es wäre Cider oder Bier. Oder noch besser: eine Granate, mit der ich die Cafeteria leer fegen konnte.
»Mein Dad kommt jeden Abend von der Arbeit undfragt: ›Ist sie noch da?‹«, erzählte Jill. »Und das, obwohl sie vor ihm steht. Er sagt, er spricht nicht mehr mit ihr, bis sie ihm sagt, wer Richards Vater ist. Er glaubt fest, dass es jemand von hier ist, und Win sagt immer nur: ›Nein, einer vom College.‹«
Ich spürte diese Anspannung in meinem Bauch und weit hinten in meinem Kopf. Ich wollte von alldem nichts wissen. Ich hörte Angie sagen, was ich antworten sollte: Das ist mir alles so egal, Jill, ich hab genug eigene Probleme. Aber ich wollte auch keinen Streit, also sagte ich: »Warum geht sie nicht nach Dublin zurück? Warum bleibt sie überhaupt hier und hört sich den ganzen Mist an?«
»Sie hat kein Geld, und bis sie Beihilfe als alleinerziehende Mutter bekommt, kann es noch Wochen dauern. Außerdem muss sie die Kaution für eine neue Wohnung auftreiben, weil Dad sie ihr nicht geben will. Und die ganzen Babysachen muss sie auch noch kaufen und …«
»Dann soll sie eben den feinen Herrn Vater bezahlen lassen«, sagte ich am Ende meiner Geduld. Und was dann kam, war schäbig, ich weiß, aber als ich sah, dass ihr die Tränen in die Augen traten, wollte ich nur noch, dass sie auch wirklich flossen. »Oder war’s nur ein One-Night-Stand? War sie so besoffen, dass sie sich nicht mehr erinnern kann, wer’s war?«
Es kamen ein paar Tränen, aber nicht so viele, wie ich gehofft hatte. Jill legte die Hand über die Augen, um keine Aufmerksamkeit zu erregen, und ich war kurz davor zu explodieren.
»Warum bist so, Eala?«, fragte sie.
»Weil du ständig über Win und den kleinen Richard jammerst und …« Ich hatte nicht gemerkt, wie laut ich gewordenwar, und plötzlich war es um uns herum vollkommen still. Aber ich hörte nicht auf. »Was willst du, Jill? Beweisen,
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