Jimmy, Jimmy
dass dein Leben trauriger ist als meins, oder was?«
»Eala?«
Sie starrte auf meine Hände.
»Was?«
Ich hatte meinen Tetra Pak Orangensaft so zwischen den Fingern gequetscht, dass mir der Saft über die Hände auf den Tisch und von da in den Schoß lief, aber die Nässe spürte ich erst, als ich die Bescherung sah. Ich stand auf und ging durch ein Spalier kichernder und schnatternder Hohlköpfe.
Während Mr Lynch weiterlabert, sage ich mir, dass ich alles Recht der Welt hatte zu sagen, was ich zu sagen hatte. Warum musste sie mich die ganze Zeit so runterziehen, mir die ganze Freude daran vermiesen, dass es zu Hause wieder aufwärtsging? Mir Angst machen, dass es vielleicht nicht so blieb?
Wenn ich nachmittags nach Hause komme, wartet Dad wie früher am Fenster. Nicht am Fenster seines Arbeitszimmers, sondern unten im Souterrain, aber das macht nichts. Wenn ich ihn dort stehen sehe, ist es wie ein Wachmacher – und den brauche ich in diesen aufgebrachten Zeiten. Als Erstes machen wir einen Spaziergang, nur Dad und ich. Wir gehen links die Straße hinunter zum Fluss. Die Stelle, wo der Unfall passiert ist, liegt in der anderen Richtung. Wir haben uns auch noch nicht zum Town Square getraut, weil Mam meint, volle Straßen und dichter Verkehr seien noch zu viel für ihn. Er geht immer auf der Innenseite des Bürgersteigs, und wenn wir den gewundenen River Walk stadtauswärts nehmen, besteht er darauf, dass ich auf derFlussseite gehe. Der Weg ist höchstens eine halbe Meile lang, und er hat es immer eilig zurückzukommen. Schwäne und Enten interessieren ihn nicht mehr. Meistens kommt er morgens schon mit Mam und Tom hierher, und wahrscheinlich hängt ihm der Weg zum Hals heraus. Ich erzähle ihm von der Schule, und er erzählt mir von Toms neuesten Abenteuern – mein kleiner Bruder verwandelt sich langsam, aber sicher wieder in den kleinen Energiebolzen, der er war.
Nach dem Spaziergang ist der Hometrainer an der Reihe und danach das Fußballspiel im Bernabéu. Beim Fußball wird es allmählich ernster. Es geht noch nicht wirklich zur Sache, aber wir spielen schon gegeneinander. Und Dad probiert seine alten Tricks. Zum Beispiel spielt er Bande über die Gartenmauer, wenn er an einem von uns vorbeiwill. Es geht langsamer als früher, aber wir lassen ihm Zeit, und manchmal klappt es.
Wir spielen jeden Tag in anderen Kombinationen, aber immer zwei gegen zwei. Gestern waren es Brian und ich gegen Dad und Sean. Ich halte es also mit dem alten Sprichwort: Wenn du sie nicht schlagen kannst, schließ dich ihnen an. Ich gehöre jetzt zu den Jungs. Und ich belasse es dabei. Brians SMS hab ich nie beantwortet. Ich wollte warten, ob er’s noch mal versucht. Eine Art Test. Ich weiß nicht, ob er’s vermasselt hat oder ich, aber es kam keine zweite SMS. Wie ich es sehe, ist er sowieso bald weg. Sean hat mir erzählt, dass er nächsten Monat sein Architekturstudium anfängt. Wenn die Gebäude, die er mal baut, nur halb so groß werden wie sein Ego, werden es alles Wolkenkratzer.
Nach dem Fußball geht jeder seiner Wege, Brian nachHause und Sean auf sein Zimmer, lernen. Es ist sein letztes Jahr, und Mam kann es gar nicht glauben, dass er sich jetzt schon so reinhängt. Ich übrigens auch nicht. Ehrlich gesagt, könnte er von mir aus immer noch jeden Abend in der fantastischen Welt seiner Superhelden verbringen, wenn er nur weiter hilft, Dad bei Laune zu halten.
Ich selbst übernehme nach dem Fußball Tom, damit Mam eine Weile mit Dad allein sein kann. Normalerweise wäre mir schon der Gedanke an schmusende Eltern oberpeinlich. Aber seit ich sie letzte Woche unten gesehen habe, schaue ich wieder mit mehr Hoffnung in die Zukunft. Jedenfalls mit mehr Hoffnung als zuvor.
Ich hatte mit Tom ein bisschen was Ruhiges machen wollen und es mit Legosteinen versucht, mit denen schon Sean und ich gespielt haben. Wir kämpften damals verbissen um jeden Stein. Tom braucht niemanden, mit dem er um Legosteine kämpft – er kämpft mit sich selbst. Auch jetzt war es so. Wenn er Steine nicht zusammenstecken konnte, schmiss er sie durchs Wohnzimmer.
»Grün’ ’raktor haben«, sagte er.
Ich suchte den Traktor überall, konnte ihn aber nicht finden. Gleich würde Tom nach Mam rufen, aber dann ging er zum Fenster und zeigte zur Einfahrt.
»Grün’ ’raktor!«
Ich sagte ihm, er solle im Wohnzimmer bleiben, und ging hinaus, um den Traktor zu holen, der umgekippt am Fuß der Eingangstreppe lag. Von da schaute ich in Dads Zimmer. Die
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