Jimmy, Jimmy
Sozialverhalten, die durch familiäre Probleme noch verstärkt werden.«
»Das heißt«, sagt der Verteidiger, »Clement Healy ist nicht im vollen Umfang für seine Handlungen verantwortlich.«
»Ja.«
Mam hat ihre Hand weggezogen. Sie starrt mit leerem Blick auf die kranken Wände. Sean murmelt vor sich hin und schlägt mit der Faust in die offene Hand. Vor uns schaut Clem Healy dem Abgang der Psychologin zu, als versuchte er immer noch zu verstehen, was sie über ihn gesagt hat. Man hört die Absätze ihrer High Heels klacken, als sie zu ihrem Platz zurückkehrt. Der Verteidiger nickt Clem zu, und sein Vater haut ihm in die Rippen, damit er hinschaut. Er springt auf und rennt fast in den Zeugenstand.
Der Richter setzt die Brille ab. Er schaut in die Runde, und ich ahne, dass er uns, kurzsichtig, wie er ist, gar nichterkennen kann. Vielleicht ist das gemeint, wenn es heißt, dass die Justiz blind ist. Er beginnt zu reden, aber er hat vergessen, das Mikrofon einzuschalten.
»Wir hören nichts«, ruft Trigger, und der Richter mustert ihn streng. Auch Starsky fixiert ihn und fährt sich mit der flachen Hand über den Hals. Trigger grinst. Dann meldet sich das Mikrofon mit einem durchdringenden Pfeifen. Der Richter trommelt mit den Fingern darauf. Clem Healy kann nicht still sitzen und hampelt im Zeugenstand herum, als müsste er dringend aufs Klo.
»Im Fall der Anklage gegen …« Der Richter blättert in der Akte vor ihm auf dem Tisch. »… gegen Clement Healy kann in Anbetracht des Gutachtens von Miss Delahunty ein Urteil ohne weitere Zeugenbefragung ergehen.«
Sean lehnt sich nach vorn und packt die Lehne des Vordersitzes.
»Ich komme nicht zu dem Schluss, dass dem Angeklagten irgendeine böse Absicht unterstellt werden kann. Vielmehr haben wir es ausschließlich mit dem Leichtsinn eines geistig nicht voll entwickelten Jungen zu tun. Mein Mitgefühl gilt Mr Summertons Familie. Dennoch halte ich die Unterbringung in einer Jugendstrafanstalt in diesem Fall für nicht angebracht. Ich verurteile Clement Healy hiermit zu einer Strafe von vierzig Stunden gemeinnütziger Arbeit …«
Clem Healy dreht sich im Kreis. Dann grinst er seinen Vater an.
Sean steht auf. »Das können Sie nicht machen!«, schreit er den Richter an. »Sie können ihn nicht einfach laufen lassen!«
»Setzen Sie sich, bitte!«, sagt der Richter. »Ich weiß, wie schwer das für Sie ist …«
»Sie wissen gar nichts«, schreit Sean. Er ist wütend und erregt, und ich weiß, dass das hier nicht das Ende der Geschichte ist. »Kommen Sie zu uns nach Hause, nur für eine Stunde, dann wissen Sie, wie es wirklich ist.«
Ein Polizist hat an einem Ende unserer Sitzreihe Stellung bezogen, und Starsky nähert sich zögernd dem anderen. Mam hat den Kopf gesenkt und hält sich die Ohren zu. Martin versucht, Sean auf den Sitz zurückzuziehen. Clem Healy drückt sich hinter seinen Verteidiger.
»Du bist tot!«, ruft Sean ihm zu. »Tot!«
»Bitte verlassen Sie nun alle den Gerichtssaal!«, sagt der Richter und schaltet das Mikrofon aus.
»Okay«, sagt Starsky. »Geht das leise, bitte? Du auch, Sean, okay?«
Wir bewegen uns langsam zwischen den Sitzreihen vorwärts, hinter uns der Polizist, vor uns Starsky, der Zeichen macht, dass wir ihm folgen sollen. Als wären wir Sträflinge, die in ihre Zelle geführt werden. Einer nach dem andern und jeder allein. Als wir an Starsky vorbeigehen, sagt er:
»Sorry, dass du das alles hast mitmachen müssen, Judy! Und für nichts …«
Mam zuckt mit den Achseln. Sean bleibt stehen, und ich versuche, ihn hinter mir herzuziehen. Er ist fast so groß wie Starsky und hat sich vor ihm aufgebaut.
»Was sind Sie für ein jämmerlicher Cop!«, sagt er. »Falschparker abkassieren, aber das war’s dann, ja?«
Im Flur vor dem Gerichtssaal ist es, als wären aller Augen nur auf uns gerichtet. Als warteten die Leute auf mehr. Sean drängt sich an mir vorbei, als wollte er dieser Hölle so schnell wie möglich entkommen. Martin folgt ihm auf den Fersen. Ich kann die Healys nirgendwo mehr sehen, und ichhabe Mam und Fiona verloren. Das Stimmengewirr und das Getrappel der vielen Leute dröhnen in meinem Kopf. Der Geruch nach warmem Schweiß ist widerlich, und ich stecke regelrecht darin fest. Ich kann kaum atmen. Ich sehe Sterne und höre sie mit einem lauten Zischen verglühen.
»Scheißkerl!«
Sean wieder. Die Menge auf dem Flur hat sich geteilt, und ich sehe erst Clem Healy, der in sein Handy spricht, und dann Seans
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