Joanna Bourne
einem vorbeistreichenden Luftzug, der nicht einmal einen Hund geweckt hätte. Schlich durch die Gasse zu einer weiteren Straße und hetzte in einer anderen Richtung weiter.
Dies war das »Spiel«, bei dem sie schon seit so langer Zeit und so gekonnt mitmachte. Nun war sie wieder das Füchschen, das listiger war als alle anderen. Doch in dieser Nacht hatte sie keinen Spaß daran. Heute Nacht schmerzte, quälte, peinigte es sie bei jedem einzelnen Schritt.
Die Nacht war voller Spione. Einigen konnte sie davonlaufen, andere umgehen, einige austricksen. Aber die besten von ihnen hielten mit ihr mit und verfolgten sie, wie sie es sich schon gedacht hatte. Hinter einem Laden ließ sie sich schließlich von ihnen in die Enge treiben. Es waren große Männer voller Entschlossenheit und Geschick, und sie taten ihr nur wenig weh. Franzosen.
Adrian hielt die Lampe hoch, damit sie die Lücke im Gitter sehen konnten. »Leblanc könnte sie geschnappt haben. Oder Soulier. Reams hat vier Marinesoldaten in der Braddy Street postiert. Auch die Russen schnüffeln noch immer herum. Und Lazarus. Die kommen am ehesten infrage.«
»Lazarus ist sauer auf dich.« Greys Worte verrieten seine große Angst. Neben anderen kriminellen Geschäften betrieb Lazarus auch den Handel mit Frauen. Sie wussten alle, was dieser Mann Frauen antat.
»Wenn es Lazarus war, haben wir etwas Zeit. Er geht die Dinge langsam an. Diese Nacht wird er ihr kaum etwas antun. Er wird sie nur … « Adrian wollte noch mehr sagen, blickte dann aber in Greys Gesicht und verkniff es sich. »Im Augenblick bin ich dort zwar nicht sonderlich willkommen, aber ich kann herausfinden, ob er sie hat.«
Galba war in einen Morgenmantel aus Brokat gehüllt, dessen Gürtel er nachlässig geknotet hatte. Er berührte die Gitterstäbe. »Giles, hol eine Kette und mach das hier zu. Robert, wie stehen ihre Chancen, dass sie den Spießrutenlauf unbeschadet übersteht und aus London entkommt?«
»Gleich null.« Er führte Adrians Hand, in der sich die Lampe befand, an eine andere Position. Auf der Fensterbank und überall auf den Gitterstäben waren dunkelrot und noch feucht Anniques blutige Fingerabdrücke zu erkennen. »Sie kommt keine Meile weit. Wenn Soulier sie nicht schnappt, dann Lazarus. Er weiß, dass sie Adrian etwas bedeutet, und hat Hunderte von Dieben und Mördern, die er auf sie ansetzen kann.«
»Wohin sollen wir die Männer schicken?«, fragte Galba.
Er blickte hinaus in die Nacht und zwang sich zu einer sachlichen Analyse. In der hintersten Ecke seines Verstandes redete ein aufgebrachtes Männchen wirres Zeug. Heute Nacht würde er noch jemanden umbringen. »Wir gehen zu Soulier. Zieh dich an, Hawk. Uns bleibt vielleicht nicht viel Zeit.«
37
Annique kannte Soulier schon ihr ganzes Leben lang. Er war ein Freund von Papa gewesen. Es war Soulier, der gekommen war, nachdem sie Papa gehängt hatten, und sie auf dem Arm aus dem Gefängnis des Königs getragen hatte. Jahre später war Soulier einer von Mamans Liebhabern geworden.
Als sie das jüngste Mitglied in Vaubans Kader gewesen war, hatte Soulier sie oft in Françoises Haus im Quartier Latin besucht, wo er dann am Küchentisch saß, lachte, trank und Pläne mit René und den anderen schmiedete. Sie war hin und her gehuscht, hatte ihnen Kuchen gebracht und Kaffee in große oder kleine Tassen geschenkt, je nachdem, welche Tageszeit gerade war. Er hatte ihr zärtlich unters Kinn gefasst und sie Füchschen genannt. Und sie hatte ›alter Fuchs‹ zu ihm gesagt. Sie hatten viel Spaß miteinander gehabt.
» Entre. Entre donc, petite «, begrüßte Soulier sie, als käme sie nicht in Begleitung dieser großen Männer.
Sie stellten sich an die Seiten und beobachteten jede ihrer Bewegungen. Sechs Männer. Dachten die etwa, sie würde plötzlich über Soulier herfallen und ihn zerfleischen? Eines Tages würde sie noch herausfinden, seit wann man ihr diese Blutrünstigkeit nachsagte.
Soulier hatte sich kein bisschen verändert. Er war nach wie vor schlank, elegant und glich einer zynischen alten Elster, die zu oft mitbekommen hatte, wie Nester ausgeraubt und Eier zerbrochen worden waren. Heute Nacht würde sie ihm Märchen auftischen müssen. Keine leichte Aufgabe, Soulier zu belügen. Man wurde nicht so einfach zum Spionagechef inmitten der Hochburg von Frankreichs Feind, wenn man ein Trottel war.
»Komm. Ja. Hierher zu mir. Es hat mich tief getroffen, mein Kind, vom Tod deiner Mutter zu hören. Es schmerzt mich noch
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