Joanna Bourne
immer. Sie war eine großartige, wunderschöne Dame und meine Freundin. So früh zu sterben, bei solch einem Unfall. Mein Kummer ist grenzenlos.«
Vor lauter Geheimplänen hatte sie völlig vergessen, dass Soulier den Tod ihrer Mutter beklagen würde. Nicht ein einziges Mal war ihr der Gedanke gekommen, dass er traurig sein könnte. Fast schien es so, als wäre sie dieser Tage hartherzig und mitleidlos geworden, und eine Verräterin noch dazu. Sie spendete ihm den einzigen Trost, den sie hatte. »Es ging ganz schnell. Vielleicht gab es da einen winzigen Moment, als die Kutsche umkippte, aber dann … stürzte sie auch schon ins Meer.«
»Nur wenige Sekunden, und sie ist nicht mehr da. Ihr Strahlen, einfach ausgelöscht, und sie fehlt uns, die wir zurückbleiben. Dir am allermeisten. So schnell, nachdem … Aber sprechen wir nicht mehr davon. Es ist noch zu frisch und schmerzlich.«
»Ich kann es noch immer nicht ganz begreifen.«
»Es ist gut, dass du dich beschäftigt hast. Das ist in solchen Zeiten immer das Beste.« Er winkte sie zu sich. »Doch lass mich dich anschauen. Du bist eine junge Frau geworden, seit ich dich das letzte Mal gesehen habe. Du wirst sogar noch lieblicher werden als deine Mutter.« Mit einer Geste deutete er auf ihr Gesicht. »Es schlummert in dir. Ich bin froh, dass du den Briten entkommen konntest.«
»Das bin ich auch, obwohl ich, wie man so schön sagt, vom Regen in die Traufe geraten bin.«
»Was das angeht … Fouché ist leider mächtig böse auf dich. Doch setz dich, sonst muss ich noch den höflichen Gastgeber spielen und aufstehen, wozu ich viel zu träge bin. Komm zu mir, gleich hier in diesen Sessel. Ich möchte dich nicht quer durch den Raum anschreien müssen. Yves, bring bitte das Beistelltischchen her, ja, zwischen uns, und stell die Lampe darauf. Genau. So ist es doch gemütlich. Wolltest du mich besuchen, Kind? Ich glaube es eigentlich nicht.«
Es war schon eine Ironie des Schicksals, dass sie aus der Meeks Street entkommen und dann ausgerechnet den Franzosen in die Arme gelaufen war, um von ihnen in dieses Haus gebracht zu werden. »Das ist eine lange Geschichte. Wo soll ich anfangen?«
»Bei Monsieur Grey vielleicht, und warum du ihn als Begleiter für deine Reise quer durch Frankreich und England gewählt hast. Ich bin einer von vielen, die sich fragen, was dein Grund für diese Entscheidung war. Lass dir Zeit und denk ein bisschen darüber nach. Ich möchte, dass mich deine kleine Geschichte überzeugt.«
»Ich auch.«
»Ich habe vollstes Vertrauen zu dir. Es ist sogar möglich, dass du mir die Wahrheit erzählst.« Er spreizte seine eleganten Hände. »Was wollen wir zu uns nehmen? Wein? Gebäck? Kaffee? Ich werde diesen Schrank, der so untätig neben mir herumsteht, mal in die Küche schicken, um sich nützlich zu machen. Ich weiß nicht einmal, ob es jetzt für London früh oder spät ist. Eine Stadt ohne vernünftige Bäckereien, die einem sagen könnten, dass es schon Morgen ist … Wie soll man es da nur wissen?«
Sie hob die Hände, um genau wie er ihr Unverständnis über diese absonderliche Lebensweise zu bekunden. Schon fühlte sie sich wieder als Französin. Seltsam, wie schnell dieses Gefühl wieder aufkam, sobald sie französisch sprach. »Wisst Ihr, dass ich in diesem grässlichen Land fast verhungert wäre? Kaffee, wirklich guten Kaffee, den hätte ich jetzt gerne. Und ein Stückchen genießbares Brot. Ihr würdet nicht glauben, was die Engländer zum Frühstück essen.«
»Ich lebe seit fünf Jahren in diesem Land. Es gibt nichts, was ich den Engländern nicht zutrauen würde. Yves, sag Babette, sie möge uns eine kleine Mahlzeit zubereiten, und Kaffee.« Soulier richtete den Schirm der Lampe genau so aus, dass sie ihr gnadenlos hell ins Gesicht strahlte. »Wir trinken einen Kaffee zusammen, und dabei erklärst du mir, warum du so ein unartiges Mädchen warst, dass Fouché sich dazu veranlasst sah, mir gewisse Befehle zu übermitteln. Und warum Leblanc dich von Frankreich aus verfolgt hat, wo er doch eigentlich hingehört.«
Leblanc war eines von vielen Themen, über die sie heute Nacht nicht sprechen wollte. »Die Ereignisse sind so derartig komplex … «
»Man munkelt, dass du die Geliebte von Grey geworden bist, dem Spionagechef. Er ist ein bewundernswerter Mensch, dieser Monsieur Grey.«
Sie wusste, was sie alle dachten. Für Soulier und seine Spione war sie zu einem Nichts geworden, einer Person, auf die man sich nicht mehr verlassen
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