Joanna Bourne
mir erzählen würdest, was los ist«, sagte er, »könnte ich dich vor Leblanc beschützen.«
Sie dachte nicht einmal über eine Antwort nach, sondern schüttelte nur den Kopf. Draußen legte sich Nebel über die Stadt und ließ die Straßenlaternen in der Ferne erglühen. Das Kopfsteinpflaster würde feucht und glatt sein, wenn sie laufen musste.
Sie reckte sich, sodass ihre Lippen nahe an sein Ohr kamen. Nun war es also so weit. »Ich will dir etwas verraten, Grey. Was ich tief in meinem Herzen für dich empfinde, ist Liebe. Denn nur Liebe kann so sehr schmerzen. Ich wollte, dass du das weißt.«
»Du sagst mir also schon wieder Lebewohl. Ich wünschte, du würdest damit aufhören. Ich lasse nicht zu, dass Leblanc dir etwas antut.«
»Ich wollte es dir nur sagen.«
»Schlaf jetzt, Annique.«
»Leblanc wird noch jemanden in diesem Haus umbringen, wenn man ihn nicht aufhält. Er weiß, wo ich bin, und ist sehr gefährlich. Es wäre viel besser, wenn ihr mich freilassen würdet, damit ich ihn mir alleine vornehmen kann.«
»Niemals. Schlaf jetzt.«
36
Sie huschte wie ein Schatten die Treppe hinunter … nackt, nur mit Schuhen an den Füßen und einem Bündel Kleider unter dem Arm. In zehn oder fünfzehn Minuten würde Grey sich im Schlaf rühren, nach ihr tasten und merken, dass sie nicht im Bett lag. Mehr Zeit hatte sie nicht.
Ganz am Ende des Flurs brannte eine einzige gelbe Flamme in einem Glaszylinder. Doch da sie die Stufen gezählt hatte, hätte sie sich auch blind zurechtgefunden. Hin und wieder knirschten plötzlich Glasscherben im Teppich unter ihren Füßen. Ferguson hatte es nicht geschafft, sie ganz zu beseitigen. In dieser Nacht würde der Monsterhund ausnahmsweise einmal nicht ausgehungert und geifernd durch die Flure schleichen, auf der Suche nach Menschenfleisch.
Die Tür zum vorderen Salon war zugesperrt. Doch Grey hatte sie schon einmal mit einem versteckten Hebel von der anderen Seite geöffnet. In diesem verschlagenen Haus befand sich ohne Zweifel auch auf dieser Seite eine Aufsperrvorrichtung.
Für Schlösser wie für Geheimmechanismen galt: Wenn sich derselbe Kopf zwei davon ausdachte, dann beruhten sie beide auf demselben Prinzip. Im Salon wurde der Mechanismus über einen Wandleuchter ausgelöst. Und hier … ? Der Spiegel am Ende des Ganges zeigte den flackernden Schatten ihres bleichen, nackten Körpers, während sie sich still und leise auf die Suche machte. Ein schmaler Intarsientisch klebte so eng an der Wand, dass sie nicht einmal mit den Fingern dahinterkam.
Es war das hintere, linke Bein, das sich wegdrehen ließ. Irgendwo im Verborgenen knirschte leise ein Bolzen. Die Tür zum Eingangszimmer klickte, und durch die zerbrochenen Glasscheiben strömte Luft herein und legte sich kühl auf ihr Gesicht.
Fergusons Besen lehnte an der Wand. Sie nahm ihn mit. Seit sie das Bett verlassen hatte, waren erst zwei Minuten vergangen.
Dennoch gönnte sie sich keine Pause, um sich dafür zu beglückwünschen. Sie suchte sich vorsichtig ihren Weg durch den Salon, dessen Boden nur grob gereinigt worden war. Sie machte kein Geräusch dabei. Zerstörte Möbel waren an die Wände gerückt worden. Die scheußliche Anrichte hatte natürlich keinen einzigen Kratzer abbekommen. Typisch, dass die hässlichsten Dinge eine Schlacht unversehrt überstanden. Das Klavier allerdings bestand nur noch aus gesprungenen Saiten und zersplittertem Holz. Hierauf würde nie wieder jemand Tonleitern pauken. Zumindest ein Lichtblick inmitten all der Zerstörung.
Durch wie viele in Schutt und Asche gelegte Zimmer war sie wohl schon gegangen, als sie mit ganzen Armeen mitgezogen war? Sie hatte Ruinen von Häusern zu Gesicht bekommen, ausgeplündert und dem Wetter schutzlos ausgesetzt, die einst genauso luxuriös wie dieses hier gewesen waren. In diesem Raum lag der Geruch eines verlassenen Schlachtfeldes – Schießpulver, Mörtelstaub und ganz schwach auch Blut.
Dann kam ihr wieder ein Bild in den Sinn … herausgelöst aus dem von Angst erfüllten Chaos dieses Nachmittags: ein Bild des Fensters.
Die ins Licht der Straßenlaternen getauchten Gitterstäbe zeichneten sich solide und schwarz gegen den grauen Nebel ab. Sie fuhr mit dem Finger über die Fensterbank. Ja. Sie hatte beobachtet, wie hier immer wieder Schüsse eingeschlagen waren. In den tiefen Spalten bewegte sich der mittlere Stab in seiner Verankerung.
Genau den würde sie aufbiegen. Dann wäre der Käfig offen, und der Vogel konnte
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