Joanna Bourne
höflich vorstellen … «, Ketten rasselten, »… doch man nötigt mich zu ungehobeltem Benehmen.«
So unermesslich allein fühlte sie sich also, dass ihr sogar die Stimme eines englischen Feindes wie eine herzliche Umarmung erschien. »Derlei Unhöflichkeiten begegnen mir in letzter Zeit häufig.«
»Es scheint so, als hättet Ihr Leblanc verärgert.« Er sprach das klangvolle Französisch des Südens, ohne auch nur den Hauch eines ausländischen Akzents.
»Ihr aber auch, wie mir scheint.«
»Es liegt nicht in seiner Absicht, dass irgendjemand von uns das Gefängnis lebend verlässt.«
»Höchstwahrscheinlich.« Sie rollte ihre Strümpfe herunter, steckte sie in ihren Ärmel, um sie nicht zu verlieren, und schlüpfte wieder in die Schuhe. Man konnte doch nicht barfuß gehen. Selbst im Vorzimmer zur Hölle musste man praktisch denken.
»Wollen wir seine Pläne durchkreuzen … wir beide?«
Er klang nicht so, als wäre er bereit zu sterben, was zwar in gewisser Weise bewundernswert, aber nicht gerade realistisch war. Typisch englisch, diese Sichtweise der Dinge.
Angesichts solcher Tapferkeit konnte sie nicht einfach dasitzen und jammern. Die französische Ehre verlangte, dass eine Französin dem Tod ebenso couragiert begegnete wie ein Engländer. Die französische Ehre schien ständig irgendetwas von ihr zu verlangen. So etwas wie Tapferkeit war eine Münze, die zu fälschen sie gewohnt war. Obendrein konnte der Plan, den sie schmiedete, sogar funktionieren. Vielleicht gelang es ihr, Leblanc zu überwältigen, aus dem Château zu entkommen und sich um die Albion-Pläne zu kümmern, die sie in diesen ganzen Schlamassel gebracht hatten. Ja, und Schweine könnten Flügel bekommen und damit durch die Stadt und um die Kirchtürme fliegen.
Der Engländer wartete auf eine Antwort. Sie erhob sich mühsam. »Es wäre mir ein Vergnügen, Leblanc in jeder Hinsicht zu enttäuschen. Wisst Ihr, wo wir sind? Ich konnte es nicht herausbekommen, als man mich herbrachte, aber ich will hoffen, dass dies das Château in Garches ist.«
»Eine ungewöhnliche Hoffnung, doch es stimmt, dies ist tatsächlich Garches, der Sitz der Geheimpolizei.«
»Das ist gut. Ich kenne den Ort.«
»Das dürfte uns von Nutzen sein, sobald wir diese Dinger hier los sind … «, das Klirren einer Kette ertönte, »… und die Tür entriegelt haben. Wir können uns gegenseitig helfen.«
Er stellte ganz schön viele Überlegungen an. »Es gibt immer einen Weg«.
»Wir könnten uns verbünden.« Der Spion wählte seine Worte mit Bedacht, in der Hoffnung, sie zu betören und so zu seiner Handlangerin zu machen. Seine Stimme war wie von Samt überzogen. Doch darunter verbargen sich unnachgiebige Härte und ein gewaltiger Zorn. Es gab nichts, was sie nicht über solch erbarmungslose, berechnende Männer wusste.
Leblanc nahm viel auf sich, um britischer Spione in dieser Art und Weise habhaft zu werden. Und obwohl sowohl beim französischen als auch beim britischen Geheimdienst seit jeher die Regel galt, nicht allzu blutrünstig mit feindlichen Agenten umzugehen, war dies nur eine der vielen Gepflogenheiten, mit denen Leblanc dieser Tage brach.
Sie tastete sich an der Wand entlang, untersuchte jede Fuge und angelte die losen Steinchen aus den Ritzen. Diese füllte sie in ihren Strumpf, um sich einen kleinen Totschläger anzufertigen, eine im Dunkeln leicht zu handhabende Waffe. Eines ihrer Lieblingsinstrumente.
Etwas regte sich kaum wahrnehmbar. Eine jüngere, sehr schwache Stimme ertönte. »Hier ist jemand.«
Ihr englischer Spion antwortete. »Nur ein Mädchen, das Leblanc hergebracht hat. Kein Grund zur Sorge.«
»… noch Fragen?«
»Im Moment nicht. Es ist sehr spät, und es dauert noch Stunden, bis sie uns holen. Stunden.«
»Gut. Ich werde bereit sein – wenn sich die Gelegenheit bietet.«
»Es ist bald so weit, Adrian. Dann sind wir wieder frei. Hab Geduld.«
Dieser unbekümmerte Optimismus der Engländer. Wer konnte den schon verstehen? Hatte nicht auch ihre Mutter immer gesagt, dass sie alle irre wären?
Leblancs Gefängnis war klein, aber wirklich sehr aufgeräumt; nur so wenige Steinchen, die sie fand. Es dauerte eine Weile, bis der Totschläger schwer genug war. Sie knotete den Strumpf zu und steckte ihn in die Geheimtasche unter ihrem Rock. Dann suchte sie weiter die Wände ab, fand aber nichts Interessantes. In Gefängnisräumen gab es nicht gerade viel zu entdecken. Dieser hatte vor der Revolution als Weinkeller gedient. Er
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