Joanna Bourne
würde nur ihre nackte Haut anstarren. Jetzt konnte sie ein Dutzend Totschläger bereithalten, und er würde nichts merken.
Schnell. Schnell. Er kam immer näher. Sie atmete noch einmal tief durch und schlüpfte in ihre Rolle wie in ein vertrautes Kleidungsstück. Sie wurde zur Hure. Gefügig, leicht einzuschüchtern und ohne Halt in diesem Spiel aus Intrigen und Lügen. Henri liebte Opfer. Sie würde ihm das perfekte Opfer liefern und hoffen, dass er anbiss.
Lauernd wartete sie getarnt hinter mehreren Schichten der sanftmütigen, törichten Hure auf ihn. Ihre Hand umklammerte den Totschläger, ohne auch nur einmal zu zittern. Sie gestattete sich nicht, Angst zu zeigen. Noch eine Rolle, die sie sich erschaffen hatte: die Tapfere Spionin. Auch diese hatte sie schon so oft gespielt, dass sie ihr passte wie eine zweite Haut.
Wahrscheinlich aber war die echte Annique in ihrem tiefsten Innern und hinter all diesen Masken nur ein zitterndes Mäuschen. Sie wagte es jedoch nicht, dort herumzustöbern, um es herauszufinden.
Gespenstisch fahles Licht drang durch die Gitter des Türfensters und wurde umso heller, je näher die Laterne kam. Grey konnte wieder etwas sehen und das Innere der Zelle erkennen. Die groben Steinblöcke, einen Tisch, zwei Stühle – und die junge Frau.
Zur Tür gewandt stand sie da, absolut ruhig und ganz auf den Mann im Flur konzentriert. Sie zeigte keinerlei Regung, nicht das kleinste Fingerzucken. Ihre von völliger Erschöpfung gezeichneten Augen waren halb geschlossen und blickten ins Leere. Sie schaute nicht ein einziges Mal in seine Richtung.
Er beobachtete, wie sie tief durchatmete und ihre ganze Aufmerksamkeit dem kleinen, vergitterten Fenster schenkte. Ihre Lippen formten stumme Worte, vielleicht betete sie oder redete mit sich selbst … oder fluchte. Noch einmal strich sie sich mit abgehackten, gekonnten, eleganten Bewegungen durchs Haar und zauberte wilde Strähnen in ihr Gesicht.
Jede ihrer Bewegungen war höchst feminin, unerklärlich französisch. Ihrem Äußeren nach – schwarze Haare, helle Haut, dunkle, indigoblaue Augen – musste sie eine waschechte Keltin sein, vermutlich aus dem Westen Frankreichs. Oder der Bretagne. Der Name Annique war bretonisch. Sie besaß die Magie einer Keltin, mit deren Hilfe sie die faszinierende Ausstrahlung der berühmten Kurtisanen erzeugte. Er beobachtete, wie sie noch einmal ihre Lippen anfeuchtete und schlängelnde, sinnliche Bewegungen machte. Kein Mann hätte dabei wegsehen können.
Sie hatte sich selber das Kleid zerrissen. Die weibliche Form ihrer Brust hob sich weiß von dem dunklen Stoff ab – eine Hure, die zeigte, was sie besaß. Sie war eine Hure, eine Lügnerin – und eine Mörderin … von der sein Leben abhing. »Viel Glück«, wünschte er ihr leise.
Sie drehte sich nicht um, sondern schüttelte nur kurz unwirsch den Kopf. »Seid still und haltet Euch heraus.«
Das saß. Er war hilflos. Er schätzte ab, wie weit seine kurze Kette reichte und ob er mit einem gezielten Tritt etwas ausrichten könnte. Doch Henri würde gar nicht erst in seine Reichweite kommen. Ganz allein musste sie Henri Bréval bezwingen und hatte nicht einmal einen Zahnstocher zur Hilfe.
Leblancs Grausamkeiten zeigten sich in den roten Malen auf ihrer Haut, und ihre Tränen hatten Spuren auf den Wangen hinterlassen. Harmloser hätte sie kaum aussehen können. Das war natürlich eine weitere Lüge.
Er kannte die Frau, hatte sie in dem Moment wiedererkannt, als Leblanc sie in die Zelle stieß. Jeder einzelne ihrer Gesichtszüge war in sein Gedächtnis eingebrannt. Er hatte sie an dem Tag gesehen, als er seine Männer, hinterhältig und grausam niedergemetzelt, in einem Kornfeld nahe Brügge fand. Hätte er bis zu diesem Zeitpunkt noch Zweifel gehegt, so wären sie spätestens beim Erwähnen der Albion-Pläne ausgeräumt gewesen. Mit diesen Plänen waren sie nach Brügge gelockt worden.
Seit sechs Monaten jagte er dieser Spionin quer durch Europa hinterher. Welch blutige Ironie, sie ausgerechnet hier zu finden.
Die Zeit seiner Rache würde noch kommen. Leblanc war ein wahrer Künstler, wenn es darum ging, jemanden fertigzumachen. Die hübsche Annique würde keines leichten und sauberen Todes sterben oder hinterher überhaupt noch als Schönheit zu bezeichnen sein. Damit wären seine Männer hinreichend gerächt.
Falls er aber frei kam … nein, sobald er frei war, würde er Annique mitnehmen, nach England. Und dort würde er jede verdammte Einzelheit
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