Joanna Bourne
abgestattet, seitdem Ihr in dieser Zelle sitzt?«
»Er war zweimal mit Leblanc und einmal allein hier, um Fragen zu stellen.«
»Also hat er den Schlüssel? Er selbst? Das wäre gut.«
»Meint Ihr?«
»Ich verspreche mir einiges von Henri.« Nicht ein einziger rostiger Nagel, nicht eine Glasscherbe war zu finden. Nirgends etwas Nützliches. Sie musste all ihre Hoffnungen auf Henris nahezu grenzenlose Dummheit setzen. »Wenn Fouché tatsächlich gerade da oben sitzt, Wein trinkt und Karten spielt, wird Leblanc ihm nicht von der Seite weichen. Man kann doch den Chef der Geheimpolizei nicht vernachlässigen, um sich mit einer Frau zu vergnügen. Wer sollte Henri dagegen Beachtung schenken? Er dürfte die Gelegenheit beim Schopfe packen. Zu gerne würde er Zeit mit mir verbringen, wozu er bisher noch nicht die Gelegenheit hatte.«
»Verstehe.« Welch wenig aussagekräftige Antwort.
War er etwa der Meinung, Henri wäre ihr willkommen? Traute er ihr so einen schlechten Geschmack zu? »Leblanc weiht nicht gerade viele Leute ein, wenn es um diesen Raum geht. Was er hier treibt, ist höchst geheim.«
»Also dürfte Henri allein heruntergeschlichen kommen. Euer Plan ist es, ihn zu überwältigen.« Sein Tonfall war so beiläufig, als wäre nichts dabei, wenn sie einen Mann wie Henri Bréval attackierte. Sie war sich fast sicher, dass er wusste, wer sie war.
»Ich kann Euch leider nicht helfen«, er rasselte mit seiner Kette, »es sei denn, Ihr schafft ihn in meine Nähe.«
»Ganz so dumm ist Henri nun doch nicht. Aber ich habe da einen Plan.«
»Dann bleibt mir nur, Euch Glück zu wünschen.«
Anscheinend war er ein Mensch mit einem hervorragenden Gespür fürs Wesentliche. Er würde ihr von Nutzen sein, sobald sie ihn von den Ketten befreit hätte. Und dann würden die Schweine wie in diesem englischen Sprichwort doch noch mit ihren neuen Flügeln davonfliegen.
Als sie die Zelle weiter erforschte, stieß sie mit dem Zeh an einen Tisch, auf dem nicht einmal ein Löffel lag. Aber ein paar Stühle standen da, was ihre Möglichkeiten erweiterte. Sie machte sich gerade an den Dübeln zu schaffen, mit denen die Hölzer verbunden waren, als sie Schritte vernahm.
»Wir bekommen Besuch«, warnte der stattliche Engländer.
»Das höre ich.« Ein Mann kam die Treppe zum Keller herunter. Henri. Das musste Henri sein. Sie richtete den Stuhl wieder auf, räumte ihn aus dem Weg, zückte ihren Totschläger und wandte sich in Richtung der Schritte. Ein Schauer lief ihr über den Rücken, doch nur wegen der Kälte in der Zelle. Nicht aus Angst. Dieses Gefühl konnte sie sich nicht leisten. »Nur ein Mann. Er kommt allein.«
»Leblanc oder Henri, was glaubt Ihr?«
»Es ist Henri. Er hat den schwereren Schritt. Nun haltet aber endlich den Mund und lenkt mich nicht ab.« Sie betete, dass es Henri war. Nicht Leblanc. Gegen Leblanc hatte sie keine Chance.
Der Engländer gab keinen Laut mehr von sich, doch er erfüllte die Atmosphäre mit hungriger, kontrollierter Wut. Sie hatte das Gefühl, als sei ein Wolf an der Wand hinter ihr angekettet. Seine Anwesenheit zerrte pausenlos an ihrer Aufmerksamkeit, die sie doch so dringend nur auf Henri richten musste.
Henri. Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und richtete verbissen ihre Gedanken auf Henri, diesen unangenehmen Zeitgenossen, der allerdings im Moment ziemlich wichtig war. Es waren zwanzig Schritte auf der kleinen Wendeltreppe von der Küche bis in den Keller. Sie zählte die letzten mit, Schritt für Schritt. Dann befand er sich im Gang zur Zelle.
Henri hatte ihren Ruf schon immer für übertrieben gehalten. Auf dem langen Weg zurück nach Paris, wo er sie Leblanc übergeben hatte, hatte sie ihm das rückgratlose Dummchen vorgespielt, indem sie demütig um Essen und Wasser bettelte, herumstolperte und ihm so das Gefühl von Macht gab. Sie hatte sich so klein gemacht, dass er sie in ihrer Finsternis für absolut harmlos hielt und schließlich voller Verachtung für sie geworden war.
Er sollte ihr nur ein bisschen näherkommen, dann würde er schon merken, wie harmlos sie war. Oh ja.
Sie wusste, womit sie ihn ködern konnte. Sie würde die dumme, kleine Hure zum Besten geben, schon immer eine ihrer Lieblingsrollen, die sie x-mal gespielt hatte.
Sie leckte sich erneut über die Lippen und machte einen Schmollmund. Was noch? Schnell ein paar Haarsträhnen ins Gesicht. Ihr Ausschnitt war bereits eingerissen. Sie fand die Stelle und vergrößerte den Riss. Gut so. Er
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