Joanna Bourne
starken Armen, die ihr Halt gaben und diese Fürsorge ausstrahlten, während sein Innerstes nicht das geringste Erbarmen kannte.
Er führte sie in Versuchung, war eine Falle mit Haut und Haaren. Es wäre so trügerisch einfach, sich in seine Hände zu begeben. Aber sie traute ihm nicht über den Weg. Noch hatte sie ihren Verstand nicht verloren. Noch nicht ganz.
Sie erreichte das Wasser. Es war überraschend warm und eine wahre Wohltat, was ihr Gefühlschaos ein wenig beruhigte. Dafür sorgte auch die Stille zu beiden Seiten des Flusses. Während sie sich auf der Suche nach dem Badeplatz der Frauen weiter flussabwärts bewegte, dachte sie über die Umgebung nach. Überall dichte Wälder. Dort konnte man sich sehr gut verstecken … in der Nacht … auf der Flucht.
»Gar nicht so übel«, lobte Doyle, als sie den Pfad hinabgegangen und außer Hörweite war. »War was anderes bei Adrian als bei dem elenden österreichischen Feldwebel mit seinen zweiundfünfzig Bleistücken im Bauch.«
»Gütiger Himmel, Will, wie lange hat sie gebraucht?«
»Zwei Minuten. Höchstens drei. Ich verstehe, warum diese Feldchirurgen sie an die Arbeit gesetzt haben. Hat das Ding rausgerupft, wie ’ne Rosine aus ’nem Christmas Pudding .«
»Bei wie vielen gottverdammten Schlachten war sie denn dabei, um so etwas zu lernen? Was für eine Hexe von Mutter ist das nur, die ihr Kind zum Spionieren in ein Armeelager schickt? Wie alt war sie? Elf? Zwölf?«
»Etwa so alt wie unser Hawker, als er anfing.«
»Hawker war kein Kind. Er war niemals ein Kind.«
»Ich glaube, das war Annique auch nicht. Nach allem, was ich gehört habe, war sie dabei, als ihr Vater gehängt wurde. Da muss sie etwa vier gewesen sein.« Doyle hüllte Adrians Brust in frische Binden. »Er blutet nicht einmal sonderlich stark. Hol dir die Decke da, hörst du? Machst du noch ’n bisschen mit deinem Schlafgefasel weiter?«
»Ja, jede Stunde für ein Weilchen. Was zum Teufel soll ich nur mit dieser Frau machen?«
»Tja, darüber würd ich mir nicht den Kopf zerbrechen. Pack deine Schlafstelle ’n bisschen weiter da hinten hin, damit du Adrian nicht störst, wenn du’s tust.«
»Sehr witzig. Ich werde mal den Bergkamm erkunden und ein Auge auf sie haben, damit sie sich nicht davonmacht. Ruf mich, wenn der Junge aufwacht. Sie wird wohl heute Nacht versuchen, sich aus dem Staub zu machen, oder?«
»Bei den ganzen Wäldern und Wiesen als Versteck … Ja. Haut dir zuerst ’nen Stein auf den Kopf, schätz ich.« Doyle nahm die Bleistücke, die in Adrians Brust gesteckt hatten, betrachtete sie eingehend und verstaute sie dann sicher in seiner Tasche. »Die will Hawk bestimmt haben.«
»Gute Idee.« Grey ließ seinen Blick über den Pfad schweifen, den sie gerade genommen hatte. »Sie plant es schon, das kann ich spüren. Vermutlich werde ich sie nicht aufhalten können. Sie versteht ihr Handwerk zu gut.«
»Dürfte so enden wie bei dem hier«, Doyle deutete auf Adrian, »als er abhauen wollte.«
»Du meinst also, es ist nicht möglich.«
»Nicht einfach. Nicht außerhalb der Meeks Street.«
Selbst wenn er sie fesseln würde, fände sie einen Weg, um sich zu befreien. »Leblanc ist uns auf den Fersen. Wenn sie uns entwischt, wird er sie finden.«
»Oder vielleicht kriegt Fouché sie zuerst und steckt sie ins Bordell. Falls sie Glück hat.« Doyle machte sich daran, die Instrumente abzuwischen und in der Tasche zu verstauen.
Da blieb, verdammt noch mal, nur noch eine Sache übrig. »Hol etwas zu essen. Sie dürfte Hunger haben, nachdem sie sich gründlich gewaschen hat. Und Will … «
Doyle blickte auf. »Gib etwas Opium in ihren Kaffee.«
Doyle versorgte Adrian mit neuen Verbänden.
»Willst du noch etwas sagen?«
»Das klappt. Sie liebt Kaffee.« Doyle nahm die Decke, legte sie Adrian über und machte es dem Jungen etwas bequemer. »Dazu musste es ja kommen. Ich werd die Dosis so gering wie möglich halten. Geh und beobachte sie.«
11
Aus den frischen Eiern und der Butter aus dem Korb der Gaststätte sowie Pfifferlingen aus dem Wald hatte Doyle ein Omelett zubereitet. Er war ein guter Koch, dieser Monsieur Doyle. Aber eigentlich, so dachte sie, konnte er noch mehr Dinge gut, als nur einen Kutscher zu mimen. Grey saß zwar direkt neben ihr auf der Decke, aber nicht so nah, dass sie sich berührten. Sie spürte, dass er sie die ganze Zeit beobachtete. In Gedanken war sie bei den Fluchtplänen für den Abend.
»Der Gastwirt hatte Gefallen an Euch
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