Joanna Bourne
Eintrittswinkel war merkwürdig steil, als wäre er von unten angeschossen worden. Das Blei war nicht in die Lunge darunter gedrungen.
Der Patient lag still. Nicht schlaff – wie bei einem mit Opium vollgestopften Mann –, aber absolut bewegungslos. Gut.
Sein Körper hatte ihr nichts mehr zu sagen. Sie setzte sich auf die Fersen und tastete sich ein letztes Mal von Instrument zu Instrument. Sie würde durch die Eintrittswunde reingehen. Dann blieb der Schaden gering, und die Wunde wurde gleichzeitig gereinigt. Sie wählte eine lange, schmale Zange. Dann korrigierte sie wortlos Greys Griff und veränderte ihre Position ein wenig.
Die linke Hand legte sie fest auf die Haut über der Stelle, über der winzigen Beule, wo die Kugel saß. Ihre Handfläche erspürte die Ebenen und Täler der Rippen. Sie öffnete und schloss die Zange zweimal, um ihre Finger zu lockern.
Los jetzt. Schnell. Ohne zu zögern.
Sie holte tief Luft und führte die Zange ein. Vorstoß. Zange leicht spreizen. Vorstoß. Dem Pfad der Kugel durch den Muskel folgen. Ihre ganze Konzentration galt der Zangenspitze, dem Erfühlen des Weges, dem Umgehen von Knochen und Bindegewebe. Durch ihre Finger strömte warmes Blut.
Vorstoß. Weiter. Knirschen von Metall. Ihre Beute. Offen. Ganz sachte jetzt. Nur daran knabbern. Dieses winzige, glitschige, harte Ding. Zupacken. Zange schließen. Ja! Sie hatte es. Rausschaffen. Schnell jetzt. Nun konnte sie sich beeilen. Der Patient hielt den Atem an. Seine Muskeln – Hals, Brust, Arme – alle wie Stahl. Neben ihr erteilte eine Stimme strikte Befehle bezüglich einer dunklen Mauer, hart wie Stein.
Sie ließ das Geschoss in ihre Hand fallen und rollte es hin und her. An der Stelle, wo es auf die Rippe geprallt war, wies die Kugel eine raue, platte Fläche auf. Ein dickes Stück fehlte. Sie musste zurück. Die Untersuchung der Kugel und das erneute Reingehen geschahen in einer fließenden Bewegung.
Das fehlende Stück musste beim Aufprall auf die Rippe abgesplittert sein. Sie würde tiefer danach suchen müssen. Reinschlüpfen. Auf dem Pfad bleiben. Tiefer. Der Patient atmete schwer. Zuckte. Zange locker lassen, die Bewegung aussitzen, um ihn nicht zu stechen. Nicht ihr Job, ihn stillzuhalten. Nur ans Metall denken.
Er war wieder still. Gut. Sie stocherte vorsichtig in der Wunde herum. Überall Blutgefäße entlang der Rippen und zwischen ihnen. Sie suchte nach einem harten Körnchen, das da nicht hingehörte. Vorsichtige, sanfte Bewegungen. Sanft … sehr sanft.
An der Seite der ersten Rippe tief unten fand sie das abgebrochene Kugelstück. Aber die Lage! Mon Dieu , die Lage. Schlimmer hätte es nicht kommen können. Die Zange pulsierte in ihrer Hand. Die Arterie. Sehr nah. Gefährlich nah.
»Nicht atmen«, befahl sie. Die Muskeln unter ihrer Hand waren steinhart … und zitterten. Das Bruchstück lag genau an der Arterie. Sie pulsierte. Er durfte sich nicht bewegen. Nicht bewegen. Sie rückte sachte vor. Ohne Druck. Sie musste es ohne den geringsten Druck greifen.
Sie kniff die Zange zusammen, packte behutsam zu und holte vorsichtig, ganz vorsichtig den Rest der Kugel heraus. Sie fügte die Metallstücke zusammen. Mehr fehlte nicht.
»Geschafft.« Sie legte die Zange auf die Decke, nahm die Verbände aus ihrem Schoß und presste sie auf die Wunde.
»Mein Gott«, murmelte Doyle.
Der Patient atmete schnell und flach durch zusammengepresste Zähne, ein zischendes Geräusch wie von einem Tier. »Fertig. Jawohl.« Grey klang genauso mitgenommen, wie sie sich fühlte.
»Das Schlimmste wäre geschafft, Hawker. Jetzt werden wir eine Mauer zwischen dir und dem Schmerz errichten. Eine große, dunkle Mauer. Tiefste Dunkelheit. Der Schmerz ist auf der einen Seite, und du bist auf der anderen. Einatmen. Langsam. Ausatmen.«
Sie selbst hatte offensichtlich seit einiger Zeit nicht mehr geatmet. Der Boden unter ihr schwankte, was ein untrügliches Zeichen dafür war.
Adrian – jetzt war er wieder Adrian für sie – verlor Blut. Es sickerte durch die Stoffschichten, die sie auf die Wunde drückte; aber nur träge, bon Dieu sei Dank. Sie hatte die Arterie nicht erwischt, ihn nicht getötet. Dieses Blut hier schoss nicht heiß hervor, nichts, was Tod verhieß.
Noch nie zuvor hatte sie jemanden operiert, den sie kannte. Es war der absolute Horror gewesen. Sie würde es in Zukunft vermeiden.
»Ich mach das.« Doyle legte ihre Hände beiseite und übernahm. Er warf die mit Blut vollgesogenen Verbände beiseite und
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