Joanna Bourne
den Wiesen und Wäldern. Oder in der Stadt, mit Tanz und Bettelei. Ich war keine besonders gute Tänzerin, das kann ich Euch sagen, auch wenn ich den Eindruck vermittelt habe. Aber Grey … Ihr könnt Euch nicht vorstellen, wie gut ich jonglieren konnte.«
Grey zögerte. »Sehr gut, nehme ich an.«
»Doyle hat Euch bestimmt von meinen Jonglierkünsten erzählt, denn er kennt sicher meine ganze Lebensgeschichte. Ich war unschlagbar, das könnt Ihr mir glauben. Und im Messerwerfen war ich sogar noch besser. Selbst jetzt, ohne Augenlicht, könnte ich auf den kleinen Singvogel da oben im Baum zielen – ich weiß nicht, wie er auf Französisch heißt. Die Roma würden bardroi chiriclo sagen.«
»Das ist ein Grünfink, Annique.«
»Aha, dann weiß ich es von nun an. Selbst jetzt und mit dem richtigen Messer könnte ich diesen Vogel in einem von zehn Versuchen treffen, wenn ich gerne Finken äße, was nicht der Fall ist. Man muss schon völlig ausgehungert sein, um einen Finken zu essen.«
Neben ihr erklang Doyles Stimme. »Schmeckt Euch der Kaffee nicht, Miss? Ich hab ihn wohl zu stark gemacht.«
»Nein, nein. Er ist wirklich gut.« Sie trank den letzten Schluck und ließ sich dann den Becher von ihm abnehmen.
»Wer weiß, vielleicht trink ich am Ende sogar selbst noch Kaffee statt Tee, wenn ich noch mehr Ausflüge hierüber mache«, spekulierte Doyle. »Ob Ihr’s in England wohl lernt, Tee zu trinken?«
»Manchmal trinke ich jetzt schon Tee, wenn mein Magen mit mir uneins ist.«
»Ihr bessert Euch. Diesmal ist Euch nicht eingefallen zu widersprechen, dass Ihr nach England geht«, stellte Grey fest.
»Falls Ihr glaubt, ich würde meine Gedanken preisgeben, Monsieur, dann seid Ihr ein Narr, was ich aber für ganz unwahrscheinlich halte.« Sie lehnte sich wieder an den Baum.
Als Adrian allmählich unruhig wurde, ging Grey zu ihm, und sie kam nicht umhin, sich eine weitere extrem langweilige Litanei übers Sich-Treiben-Lassen und Schlafen anzuhören. Es war befremdlich, wenn er so monoton redete und redete und Adrian dadurch so ruhig wurde, dass er ihn behandeln konnte. Irgendwann würde sie es sich von Grey erklären lassen; später, wenn sie nicht mehr so müde war. Es ärgerte sie, dass er nicht aufhörte zu reden, wo sie doch nichts anderes wünschte, als sich auszuruhen und zu entspannen. Aber nach einer gewissen Zeit, so nahm sie an, beachtete man ihn vermutlich kaum mehr als das Summen der Bienen oder Zirpen der Grillen.
An diesem Nachmittag war es auf der Lichtung sehr warm. Doyle lief hin und her. Das Geräusch seiner Stiefel, als er das Geschirr wegräumte und das Feuer schürte, schien die gleiche Daseinsberechtigung in diesem Lager zu haben wie das Zwitschern der Vögel und das Scharren der Hufe der am Rand der Lichtung angebundenen Pferde. Alle Gerüche, alle Geräusche waren so, wie sie sein sollten.
Als sie in jungen Jahren in Jungenkleidung den Armeen gefolgt war, kam Vauban manchmal, um sie zu treffen. Dann pflegten sie, wie jetzt, in den Wiesen oder Wäldern zu sitzen und ein kleines Feuer zu entfachen. Wenn möglich, brachte er ihr Essen mit. Damals hatte sie ständig Hunger gehabt. Dann aß sie und berichtete ihm von jeder winzigen Beobachtung, und Vauban lobte sie und erteilte neue Befehle. Dabei hatte sie sich für ein oder zwei Stunden sicher gefühlt. Vauban hätte sie mit seinem Leben beschützt.
Manchmal kam Soulier in der Uniform eines Soldaten oder in Lumpen. Egal wie, er sah immer elegant aus. Soulier schmuggelte für sie Bonbons aus Paris, und zwar mit der gleichen Sorgfalt, als wären es Geheimdokumente. Er brachte sie zum Lachen. Von ihm erhielt sie immer gute Ratschläge. Es gab niemanden, der so gerissen war wie Soulier.
Nun befand Soulier sich in London, seit er zum Chef aller französischen Spione in England erhoben worden war. Er spielte die Rolle des ungetarnten Agenten. Des Agenten, von dem zwar alle Männer wussten, dass er für die Geheimpolizei arbeitete, den aber niemand anrühren durfte. Dies beruhte auf einem alten Abkommen – keiner wusste wie alt – , nach dem sich in jeder Hauptstadt ein ungetarnter Agent befinden sollte. Denn trotz allem musste es einen Mann geben, zu dem die Briten kommen konnten, um Seeleute, Agenten und einzelne Soldaten freizukaufen, wenn sie den Franzosen in die Hände gefallen waren, oder um geheimste und privateste Botschaften zwischen den Regierungen überbringen zu können.
Soulier musste diese Arbeit lieben, da er einen Sinn für
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