Joanna Bourne
Kutschboden verkriechen. Sollte sie nicht schon vorher einem Querschläger zum Opfer fallen, würde man sie schließlich würdelos auf den Knien kauernd finden und zu Leblanc bringen.
Vor Wut und Angst war sie wie erstarrt. Noch nie, noch nie zuvor hatte sie ihre Blindheit mehr gehasst als in dieser Minute, wo sie so hilf- und nutzlos war.
Grey ergriff ihre Schultern und drückte sie, als testete er ihre Stärke. Er musste ihr Zittern gespürt haben. Wie wenig es zu bedeuten hatte, würde er nicht wissen. »Es wird schon gut gehen.«
Eine kurze, unpersönliche Berührung an ihrem Arm. Adrian. »Hört zu, Füchschen. Wir sind einander verpflichtet, Ihr und ich. Eine Viertelmeile voraus befindet sich ein altes Kloster. Dorthin verschwinden wir.«
»Wir kümmern uns um die Männer und kehren dann zu Euch zurück.« Grey wurde ernst. »Annique, macht jetzt keinen Fehler. Wer auch immer uns verfolgt, Ihr wollt ihm nicht in die Hände fallen.«
»Da habt Ihr recht.« In Frankreich hatte sie keine Freunde, die in Gruppen zu Pferde unterwegs waren. Nur ihre Feinde waren so stark.
»Egal in welcher Richtung, meilenweit gibt es nichts als Wald, Ödland und Sand. Keine Häuser und niemanden, der Euch helfen kann. Bleibt bei Adrian. Versucht nicht, alleine loszulaufen.«
Er beschützte sie, obwohl sie eine feindliche Spionin war. Das war das Wesen von Grey vom britischen Geheimdienst: zu beschützen. Sie antwortete nur: »Ich werde mit Adrian gehen und mich bestmöglich um ihn kümmern. Ihr habt mein Wort.«
Adrian und Grey sagten nichts dazu. Sie meinte zu spüren, dass sie sich anlächelten. Männer konnten solche Idioten sein.
»Ihr könnt gegenseitig auf Euch aufpassen«, sagte Grey. »Hier kommt Euer Kloster. Wir halten nicht an. Adrian?«
»Bereit.«
Adrian hockte sich vor die Tür und hielt sie auf. Seine Reisetasche stieß ihr gegen die Beine.
Grey hatte so viel Kraft. Er klammerte sich mit den Beinen zwischen den Sitzen fest und beugte sich über sie. »Ich möchte Euch lebend wiedersehen. Macht keine Dummheiten.«
»Ich bin nicht dumm.«
»Wenn Ihr abhaut, spüre ich Euch auf. Und wenn ich Euch finde, werde ich verdammt sauer sein.« Er packte sie noch fester. »Es war noch keine Zeit dazu. Was auch immer Ihr getan habt … Oh, zum Teufel.« Brutal schloss sich sein Mund über ihrem. »Wir reden später darüber.«
Doch sie versuchte gar nicht zu reden. Sie begehrte ihn so sehr, fand sein Haar, vergrub sich darin und zog ihn an sich. Sie verzehrte ihn von Mund zu Mund. Sie kämpfte sich gegen die seltsame Stellung ihrer Körper und das Schlingern der Kutsche zu ihm durch, kam jedoch nicht nah genug heran.
Sie hatte eine Minute. Dann nahm er ihren Kopf fest zwischen seine Hände und drückte ihr einen letzten Kuss auf die Stirn. »Dann ist es abgemacht. Ich werde zurückkommen. Und dann bringen wir das hier zu Ende. Ich lasse dich nicht gehen.«
Sie hatte sich schon gefragt, wie es sein würde, ließe Grey sich einmal dazu hinreißen, sie zu nehmen. Nun wusste sie es. Er war stürmisch, direkt und sich seiner Sache sehr sicher.
Die Kutsche wurde langsamer. »Jetzt!«, rief Adrian und sprang. Sie hörte den Aufprall am Boden.
»Grey … «, sagte sie.
»Sei vorsichtig.« Er schleuderte sie durch die offene Tür. Bevor sie Zeit hatte, Angst zu bekommen, stolperte sie in einen grässlichen Sturz.
Die Straße hieb auf sie ein. Sie unterdrückte die Schmerzensschreie und überschlug sich mehrfach. Auf dem glitschigen, kalten Boden kam sie benommen und mit Schmerzen zum Liegen. Unter ihr waren Steine und Schlamm. Ehe sie sich bewegen konnte, hatte sich Adrians Faust in ihrer Kleidung verhakt. Er zerrte sie eilig in stachelige Büsche, warf sich auf sie und begrub sie unter sich.
Die Kutsche rollte davon und nahm wieder Fahrt auf. Das Rattern der Räder wurde von den Bäumen verschluckt.
»Eure Schulter?« Sie flüsterte so leise, wie sie konnte. Hatte er sich die Wunde wieder aufgerissen?
»Geht.« Die Antwort schlich nahezu lautlos in ihr Ohr.
Sie drückte sich fest auf den Boden und verbarg ihr helles Gesicht im Dreck, um sich nicht zu verraten. Adrian hatte auch schon Schlachten überlebt. Sie hörte ihn neben sich atmen. Das Gesicht getarnt, indem er es in die Erde drückte.
Stille. Dann wurde das eben noch ferne Klirren von Zaumzeug und Dröhnen von Hufen lauter und kam immer näher. Sie konnte sechs hintereinanderlaufende Pferde ausmachen. Drei weitere folgten mit etwas Abstand. Als sie
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