Joanna Bourne
vorbeikamen, hielt sie den Atem an und gab vor, Erde zu sein, Steine oder Büsche.
Als sie weg waren, presste sie ihr Ohr auf den Boden und wartete, bis auch der leiseste Hufschlag verklungen war. Dann wartete sie noch etwas länger. Das Summen der Insekten und der Gesang der Vögel in den struppigen Kiefern kamen zurück, und sie wartete noch immer. Sie wünschte, Adrian hätte einen Platz ohne Stacheln ausgesucht … und ohne Krabbeltierchen.
Neun Männer. Selbst Grey würde nicht mit so vielen fertig werden. Er lief in diesem kalten Wald direkt ins Verderben.
Sie drückte die Stirn auf den kalten Boden und hielt die Augen fest geschlossen, da sie weinen musste. Es war zu Ende. Mit dieser Station ihrer Reise. Mit diesem Mann, der ihr das Herz aus dem Leib gerissen hatte. Sie würde ihn nicht wiedersehen oder mit den Gefühlen zu kämpfen haben, die er in ihr weckte. Sie wusste, was Greys Kuss ihr hatte sagen sollen. Lebe wohl.
Der Nebel schlug sich in Sprühregen nieder. Wozu sollte sie jetzt noch hierbleiben? Sie musste sich um Adrian kümmern, der krank, schwach – und wie die meisten Männer ein Narr – , aber vor allem schon mehr tot als lebendig war. Wenn sie nicht bei ihm blieb, wäre das vermutlich sein Ende. »Es ist Zeit weiterzugehen. Mir ist kalt«, sagte sie.
»Mir auch.«
»Könnt Ihr laufen? Nein, gebt mir die Tasche. Blutet die Wunde?«
»Nur etwas.«
Sie prüfte sein Hemd. Er sagte die Wahrheit. »Wo geht’s lang? Könnt Ihr laufen?«
»Ich kann so weit laufen, wie ich muss.«
Sie nahm ihm die Tasche ab. Ihrem Gewicht nach musste sie ein halbes Dutzend Waffen enthalten, was zweifellos der Fall war. Diese Engländer waren bis an die Zähne bewaffnet. Adrian legte den Arm um ihre Schulter, um sie um die vielen Furchen zu lenken und sich abzustützen. Das Gehen wurde einfacher, als sie die Straße verließen und den Hof des alten Klosters betraten. Vögel fühlten sich durch ihr Kommen gestört und flatterten panisch auf. Keine angenehme Sache für diese kleinen Vögel bei diesem Regen.
»Das Dach der Kapelle ist noch da. Wir gehen dorthin«, entschied Adrian. »Geradeaus.«
Feuergeruch hing noch in der Luft. Vielleicht hatten die Revolutionäre die Mönche schon vor einem Jahrzehnt ausgeräuchert. Oder aber das Kloster war während des Krieges in der Vendée von einer der beiden Seiten zerstört worden. Sobald die Soldaten abgezogen waren, ließ sich kaum noch feststellen, welche Kriegspartei für welchen Brand verantwortlich war.
Doch keine hatte sich die Mühe gemacht, die Kapelle abzufackeln. Sie stieß die Tür auf und hörte das Hallen eines geschlossenen Raumes, aber kein Regengeprassel. Dennoch mussten, der kalten Brise auf ihrem Gesicht nach zu urteilen, die Scheiben der Fenster zerbrochen sein. Als sie weiterging, stieß sie mit den Füßen gegen Schutt und trockene Holzstücke, die wahrscheinlich von Gestühl und geschnitzten Statuen stammten. Damit würde sich wunderbar Feuer machen lassen.
»Hinten ist eine geschützte Stelle«, erklärte Adrian.
Zwischen dem Altar und der Kirchenwand zog es nicht. Dort ließ sie ihn in seine Jacke gehüllt auf den Steinen sitzen. Er hatte keine Kraft zu vergeuden. Daher stritt sie nicht mit ihm, als er ihr erklärte, dass er dieses oder jenes machen würde. Sie hörte ihm einfach nicht zu und erledigte es selber.
Es war zwar nicht einfach, die für ein Lager notwendigen Dinge zu tun, wenn man blind war, aber unmöglich war es nicht. In ihrer Jugend hatte sie an vielen unbequemen Plätzen Lager errichtet. Der Schutt auf dem Boden lieferte ihr Steine für einen Totschläger und einen Taststock. Draußen befand sich ein riesiger, nasser und dorniger Dschungel, der einst der Garten der Mönche gewesen war. Auf den immer noch gepflasterten Pfaden bahnte sie sich einen Weg durch verbranntes Holz und eingestürzte Wände. In den Ecken stand Adlerfarn, der trocken genug war, um darauf zu schlafen, und lag genügend verkohltes Holz, um ein Dutzend Lagerfeuer zu machen. Außerdem fand sie einen Apfelbaum, aber keine Brombeeren. Die Vögel mussten sie wohl aufgefressen haben.
Es gab nicht die leisesten Anzeichen für einen Kampf in der Ferne. Was auch immer mit Grey passiert war, es hatte leise oder weit entfernt stattgefunden. Sie erlaubte es sich, während der Arbeit im Regen in diesem menschenleeren Garten zu weinen.
Schließlich trocknete sie ihr Gesicht mit dem Ärmel, beendete die notwendigen Aufgaben und trug das Feuerholz und den Farn
Weitere Kostenlose Bücher