Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Joanna Bourne

Joanna Bourne

Titel: Joanna Bourne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Geliebte des Meisterspions
Vom Netzwerk:
drängelten sich in ihrem Kopf. Sie verlor sich in diesem Lichtermeer, war sprachlos angesichts der Schönheit einer über dem funkelnden Wasser schwebenden Möwe. Nie, nie wieder würde sie Licht als etwas Selbstverständliches ansehen.
    Das hier sollte also ihre neue Heimat werden, England.
    Sie hatte drei Pfund und sechs Pence in englischen Münzen unter ihrem Hemd versteckt. Der Rest von Henris Wertsachen war bei den Verhandlungen mit den Schmugglern aufgebraucht worden. Sie hatte nichts bei sich und für die Nacht kein Dach über dem Kopf. Ihr wurde bewusst, dass sich in den neunzehn Jahren ihres Lebens kein einziger Gegenstand – kein Fetzen Papier, kein Kamm, kein billiges Schmuckstück – dauerhaft gehalten hatte. Als sie die hölzerne Landungsbrücke verließ, hätte sie Aphrodite sein können, die neugeboren und nackt dem Meer entsprang. Sie würde von vorne anfangen. Man hatte ihr alles genommen.
    Solange sie denken konnte, war sie eine Spionin gewesen. Aber das war jetzt vorbei. Was auch immer sie mit den Albion-Plänen anstellte, für Frankreich würde sie nicht mehr spionieren.
    Dies war ihre letzte Runde in dem »Spiel«. Sie würde nach London gehen, Zuflucht bei Soulier suchen und ihre Entscheidung treffen. In einer Woche oder zwei würde sie entscheiden, wie sie mit diesen Plänen verfuhr, die sogar einem Pflasterstein auf die Nerven gehen würden. Und vielleicht verriet sie sie am Ende doch den Briten. Dann würde sie Soulier klammheimlich verlassen und wie ein Tropfen Wasser im Meer irgendwo in England untertauchen. Und diese gefährlichen Engländer und Franzosen, die hinter ihr her waren, würden sie niemals finden.
    Sie würde sich an einem einsamen Ort niederlassen, zur schlichten und unkomplizierten Anne werden – zur Anne, an der überhaupt nichts ungewöhnlich war – und eine Arbeit annehmen, die nicht über das Schicksal von Nationen entschied. Vielleicht würde sie sich eine Katze zulegen. Welch ein erholsames Leben.
    Die Felsen entlang des Kais bildeten eine komplexe Landschaft aus Terrassen, Böschungen, Felsspitzen und Tälern. Sie sahen haargenau wie die Felsen von Frankreich aus, was wahrscheinlich eine philosophische Wahrheit mit Tiefgang war. Als sie dem Pfad von den Kaianlagen hinauffolgte, erblickte sie auf dem Fensterbrett einer der Holzhütten einen blauen Krug mit gelben Blumen. Gelb wie die aufgehende Sonne. Das war ihr Willkommensgruß in England.
    Dover war eine Hafenstadt wie jede andere, ein Ort strenger Gerüche und vieler Prostituierter. Sie verspürte nicht den Wunsch, länger hierzubleiben, und sie musste sich ohnehin auf den Weg nach London machen, um sich dort mit wichtigen Dingen zu befassen.
    Eines Tages hatte sie einen Mann kennengelernt, der mit Brandkugeln jonglierte. Das Geheimnis, so verriet er, lag darin, sie in der Luft zu halten und nie richtig zu berühren. Auf diese Weise verbrannte man sich auch die Finger nicht dabei.
    Bei den Albion-Plänen war es genauso. Sie konnte nicht einfach eine Entscheidung treffen und sie festhalten, ohne sich die Hände zu verbrennen, sondern musste sie alle in der Luft halten.
    Den Engländern nur ein paar Daten, Zeitpunkte und Routen zu nennen, wäre sinnlos. Da der Geheimdienst ein äußerst effektiver Filter von Geheimnissen war, würden die Franzosen davon erfahren, die Daten entsprechend ändern und trotzdem einmarschieren. Oder die Engländer würden ganz untypisch reagieren und die Invasoren mit einem Hinterhalt empfangen. Kein befriedigendes Ergebnis. Natürlich könnte sie den Engländern auch die große Zusammenfassung der Pläne präsentieren. Dann würden die Franzosen die Invasion nicht wagen … aber so viel geballtes Wissen würde den Verlauf von Schlachten auf Jahre hin beeinflussen. Sie würde den Einmarsch zwar abwenden, aber auf Kosten des Lebens vieler Franzosen.
    Wenn sie aber nichts unternahm, würde kommendes Frühjahr diese Stadt der Fische und Huren zweifelsohne ein Trümmerhaufen sein. Dann gäbe es keine tapferen gelben Blumen mehr im Fenster, auch keine Fensterscheibe oder jemanden, der die Vase überhaupt aufs Fensterbrett stellen konnte.
    Sie hätte zahllose Staatsmänner und Gelehrte nennen können, die auf Anhieb sehr genau wüssten, was in dieser Situation zu tun wäre. Wie schade, dass die Albion-Pläne nicht in deren Schoß gelandet waren.
    Vielleicht kämen ihr ja auf dem Weg nach London Antworten. Montaigne, der nicht nur weise, sondern auch Franzose war, hatte gesagt, dass Reisen zu

Weitere Kostenlose Bücher