Joanna Bourne
seinem überflüssigen Latein hatte recht gehabt. Das kleine schreckliche Etwas in ihrem Schädel war vom Sehnerv gerutscht, wanderte jetzt umher und machte sich bereit, um sie zu töten.
Sie blieb liegen und stellte sich auf den Tod ein, wie es der Doktor vorausgesagt hatte.
Das war mal wieder typisch, dass ein paar knorrige Kiefern das Letzte sein sollten, was sie am Ende ihres Lebens zu Gesicht bekam. Typisch, dass sie lang ausgestreckt in glitschigem, kaltem Schlamm liegen sollte. Sie versuchte, sich zu sammeln und eine Größe anzunehmen, wie sie diesem ernsten Moment angemessen schien. Worüber sie jedoch nachdachte, war ihre grenzenlose Dummheit, die sie dazu gebracht hatte, Henris Pferd zu vertrauen. Und dass sie sehr unbequem lag. Und wie hungrig sie war. Und wie sehr diese winzigen Tropfen blendeten, die zitternd die Kiefernnadeln herunterrollten … die Tropfen, die die Kiefernnadeln entlangglitten und ihr einer nach dem anderen ins Gesicht fielen.
Sie wartete. Minuten vergingen. Nichts passierte, außer dass sie immer nasser wurde.
Allmählich kam ihr der Gedanke, dass sie gar nicht sterben würde. Oder wenigstens nicht sofort. Sie setzte sich auf. Normalerweise hätten die Kopfschmerzen jetzt jegliche Aufmerksamkeit auf sich gezogen.
»Ist das seltsam.« Sie ertappte sich dabei, wie sie auf ihre Hände schaute, so automatisch wanderten ihre Augen in die gewohnte Ruheposition, wie zur Zeit ihrer Blindheit. Erstaunlich, die eigenen Hände wiederzusehen. Das Kleid, das sie anhatte, zu sehen – hellgrün, völlig verdreckt. Zu sehen …
Sie konnte sehen. Sie war nicht mehr der lächerliche, blinde Wurm. Sie war sie selbst. Sie war Annique, das Füchschen. Spionin extraordinaire . »Ich kann … sehen.« Vor Verblüffung fühlte sie sich ganz leer, wie eine Muschel, die nichts als Freude enthielt. »Ich kann alles tun.« Sie rappelte sich auf. Sie wollte tanzen, fliegen.
Der Graben war voller Kiefernzapfen, weshalb sie so unbequem gelegen hatte. Aus ihnen suchte sie sich fünf fest geschlossene, schwere und gut in der Hand liegende aus.
Eins, zwei, drei. Sie warf den einfachen Kreis, den ihr Shandor beigebracht hatte, als sie acht war … in der ersten Nacht, als sie zu den Roma kam und so einsam war.
Fangen war so einfach wie Atmen. Die Kaskade. Der Half Shower. Die Fontäne. Wunderschön. Sie zog den Kopf weit nach hinten und schwankte hin und her, um die Zapfen aufzufangen. Ihr Kopf tat höllisch weh, was jedoch absolut belanglos war.
Bon Dieu , war sie steif. Es gab Zeiten, da hatte sie es sogar manchmal geschafft, mit fünf Dingen zu jonglieren. Heute war sie froh, den Shower, also vier Bälle in der einfachsten Form im Kreis zu jonglieren, etwas, das selbst Kinder konnten.
Sie wollte … oh, wie sehr sie sich in diesem Moment nach Grey sehnte. Sie wollte es ihm zeigen. Wie sie jonglieren konnte. Ihre kleine Kunst. Das Kunststück, das sie aus reinem Spaß an der Sache gelernt hatte.
Die Kiefernzapfen lagen strahlend vor Glück in ihren Händen. Trotz Monaten der Leere war noch nichts verloren. Hände und Augen in Zusammenarbeit. Diese wundervollen Augen, die für sie sehen konnten.
Grey würde sie nie jonglieren sehen. Niemals.
Plötzlich wurde sie ungeschickt und verpasste einen Zapfen. Da ließ sie auch die anderen fallen. Sie landeten links und rechts und trafen genau aufeinander, wie es bei jonglierten Gegenständen der Fall ist.
Sie lehnte sich mit dem Gesicht an den Baumstamm. Es war derselbe Baum, der sie in den Graben geschleudert hatte. In der Ungestörtheit des dichten Waldes stockte ihr der Atem, und Tränen stahlen sich aus ihren Augen. Sie weinte vor Trauer und unsagbarem Glück.
16
Die Küste Nordfrankreichs, nahe St. Grue
Der Schuppen stand am Strand. Neben der Tür lag ein umgedrehtes Fischerboot. Leblanc ignorierte das Schluchzen, das durch die Holzläden aus dem Innern drang, ignorierte auch das kleine Mädchen, das sich wild schimpfend gegen die beiden stämmigen Dragoner wehrte, die es festhielten. Seine Aufmerksamkeit galt einzig und allein dem Mann, der vor ihm auf den Knien lag.
»Wann ist sie losgefahren?«, wollte er wissen.
»Mit der Fischerflotte. Bei Tagesanbruch.« Der Fischer nuschelte wegen seiner aufgeschlagenen, blutenden Lippe. »Im Boot der englischen Schmuggler.«
»Wohin sind sie gefahren? Was ist ihr Heimathafen?«
»Wer weiß das schon? Sie haben viele sichere Häfen, die ganze Küste entlang. Sie – «
Ohne Vorwarnung traf Leblancs
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