Jodeln und Juwelen
der man baden konnte, wenn einem das
eisige Wasser nichts ausmachte. Die Brücke war sicher immer noch da. Irgendwie
war es aufregend, an einer Insel anzulegen, auf der man, wenn auch nur für
kurze Zeit, die Herrin war. Emma hoffte inständig, dass Everard Wont ihr nicht
zu sehr den Nerv töten würde. Es war schlimm genug, dass er sie gezwungen
hatte, ihn vor den anderen zurechtzuweisen, andererseits gab es keinen Grund,
einen arroganten Flegel wie ihn mit Samthandschuhen anzufassen. Emma hätte gern
gewusst, ob Adelaide schon einmal etwas Ähnliches widerfahren war.
Außerdem fragte sie sich, ob wohl einer
der Anwesenden ihre Ledertasche gestohlen und in der Herrentoilette abgestellt
hatte. Es hätte sie nicht überrascht, wenn Graf Radunov nicht nur der ehrliche
Finder, sondern auch der hinterlistige Dieb gewesen wäre. Er hatte vielleicht
nicht gewusst, dass sie ebenfalls nach Pocapuk fuhr. Er hatte sie vielleicht
nur für eine ältere Dame gehalten, möglicherweise für eine Witwe, die ihre
Reichtümer mit sich herumschleppte, und aus Prinzip beschlossen, sich ihr
Gepäck ein wenig genauer anzusehen.
Trotzdem war Radunov sicher ein guter
Gegenpol zu Everard Wont. Emma fragte sich, ob der zweifellos selbst ernannte
Graf tatsächlich beabsichtigte, ein Buch zu schreiben. Aber warum eigentlich
nicht? Das wollten fast alle Menschen, und allzu viele setzten ihre Absicht
leider auch noch in die Tat um.
Die Fähre drosselte ihre Geschwindigkeit
noch mehr und kam am Pier zum Stehen. Der Mann — es war tatsächlich ein Mann,
und zwar ein ziemlich kräftiger — hob die Arme, um das Tau aufzufangen, das ihm
einer der Matrosen zugeworfen hatte. Emma schaute sich ihre windzerzausten,
sonnenverbrannten Mitreisenden an, sagte in ihrem üblichen Dinner-Party-Ton:
»Sollen wir?« und machte sich bereit, an Land zu gehen. Sie hatte keine Lust, Everard
Wont die Führung zu überlassen.
Adelaide hatte versprochen, Vincent
anzurufen und ihn über ihre geänderten Pläne zu informieren. Anscheinend hatte
sie ihr Versprechen gehalten, denn der stämmige Mann mittleren Alters in dem
sauberen karierten Hemd und der Khakihose schien kein bisschen überrascht zu
sein, Emma an Stelle seiner Arbeitgeberin zu sehen.
»Guten Tag«, begrüßte sie ihn. »Sie
müssen Vincent sein.«
»Stimmt genau. Und Sie sind sicher Mrs.
Kelling. Wohl die ganze Truppe im Schlepptau, was?«
»Ja, obwohl ich gar keine Ahnung davon
hatte. Wir haben uns erst bei unserem letzten Stopp kennen gelernt. Mrs. Sabine
hat mir erzählt, sie hätten die Cottages schon vorbereitet. Ich bin sicher,
dass sich jeder so schnell wie möglich einrichten möchte.«
»Okay, wir kümmern uns drum. Sie gehn
am besten schnurstracks hoch zum Haus, Mrs. Kelling. Eins von den Mädchen kann
Ihnen beim Auspacken helfen, Ihre Sachen sind schon in Ihrem Zimmer. Die andern
schmeißen ihr Gepäck am besten hier auf die Karre und folgen mir. Ich hab’ die
Liste, auf der steht, wer wo wohnt. Lassen Sie mich das doch tragen, Ma’am.«
Da die Männer und Miss Quainley schwer
an Reiseschreibmaschinen, Kameras, großen Mappen, Malutensilien,
zusammenklappbaren Stativen und anderen Kennzeichen ihrer jeweiligen Zunft zu
tragen hatten, kämpfte Mrs. Fath einsam und allein mit ihrem riesigen blauen
Vinylkoffer, zwei bis zum Bersten gefüllten Papiertragetaschen und einem
kleinen viereckigen Gepäckstück. Wahrscheinlich transportierte sie darin ihre
Kristallkugel, mutmaßte Emma.
»Dann sehen wir uns alle um sechs im
Haupthaus. So hat man es hier bisher immer gehalten, nicht wahr, Vincent?«
»Genau. So is’ es immer gewesen. Drinks
um sechs, Dinner um sieben. Kommen Sie mit dem Gepäck klar, Mrs. Kelling?«
»Aber sicher. Die Tasche ist ganz
leicht. Vielen Dank für das Angebot, Vincent.«
Emma war mit ihrem Hausmeister sehr
zufrieden und nahm den Weg, der zum Haus hoch führte, weitaus glücklicher in
Angriff als erwartet. Es war ein wunderschöner Weg, gesäumt von alten
Eisenbahnschwellen und mit einer zentimeterdicken federnden Schicht aus
herabgefallenen Kiefernnadeln bedeckt. Überall, wo es nötig erschien, waren
Trittsteine in den Boden eingelassen. Alles wirkte malerisch und natürlich und
ausgesprochen gepflegt.
Falls es auf dieser Insel wirklich
einen Schatz gab, dachte Emma, dann war es Vincent. War Vincent eigentlich sein
Vorname oder sein Familienname? Im Grunde war es egal, es war auf jeden Fall
der Name, mit dem die Sabines ihn anredeten. Es lag Emma fern, den seit
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