Jodeln und Juwelen
Doch die
Südwester, die sich die Männer aufgesetzt hatten, erfüllten ihre Funktion und
lenkten das Wasser in dicken Strömen auf die Rücken der alten Ölmäntel hinab.
Sie glänzten wie nasse Seehunde, als sie den Stall erreichten.
Trotz des deckenverhüllten Bündels auf
dem improvisierten Tisch erschien ihnen das Innere des Stalls bei diesem
scheußlichen Wetter fast wie ein freundliches Refugium. Vincent, der seine
Kleidung mit einem ölverschmierten Overall schützte, kniete unter einer
Hundertwattbirne, die an einem Kabel von einem mit Spinnweben bedeckten Balken
hing. Vor sich hatte er eine große Plane ausgebreitet, auf der verschiedene
Teile eines kleinen Elektrowagens lagen. Vincent erhob sich bei Emmas Anblick
schnell wie eine Katze, und zwar ohne dass seine Gelenke knackten, wie Emma ein
wenig neidisch registrierte.
»Sie wolln sich sicher die sterblichen
Überreste ansehen.« Er führte sie zum Tisch, zog die Decke vom Gesicht des
Toten und legte sie geschickt über der Brust zusammen.
»Mein Gott, Ev, der sieht ja aus wie
du!« war Sendicks erste Reaktion.
»Stimmt überhaupt nicht!« widersprach
Wont, der verständlicherweise anderer Meinung war, wie aus der Pistole
geschossen.
»Ev hat Recht«, sagte Joris Groot.
Der Illustrator machte auf einige
anatomische Unterschiede aufmerksam, die nicht gerade zu Wonts Vorteil
ausfielen. Emma versprach sich wenig davon, außerdem war es ihr ziemlich egal.
Sie wollte nur wissen, wie der Mann gestorben war. Leider hatte sie keine
Ahnung, wie Ertrunkene normalerweise aussahen. Der Mann konnte natürlich auch
bei seinem Sturz mit dem Kopf aufgeschlagen sein. Es gab genügend Felsen, auf
die er hätte fallen können. Sie bedauerte, dass der Sturm den Hafenmeister fern
hielt, doch es wäre töricht gewesen, bei diesem Wetter nur für einen Toten die
gefährliche Überfahrt zu riskieren.
Der Wind draußen heulte immer
eindrucksvoller, und selbst der kurze Weg vom Haus hierher war ein schwieriges
Unterfangen gewesen. Als sie da standen und auf das bleiche Gesicht mit dem
verfilzten nassen Bart schauten, brach von einer Kiefer ganz in der Nähe ein
großer Ast ab und fiel mit lauten Krachen auf das Stalldach, so dass selbst
Vincent aufschreckte.
»Dieser verdammte Junge!« schimpfte er
zur allgemeinen Verwunderung. »Ich geh’ besser nachsehen, was los ist.«
Ohne sich die Zeit zu nehmen, den Regenmantel
überzuziehen, hastete er hinaus in den Sturm. Die anderen wussten nicht, was
sie tun sollten, standen untätig herum, zuckten mit den Achseln, tauschten
verständnislose Blicke aus, versicherten einander, dass sie den Toten noch nie
im Leben gesehen hatten, und fragten sich, welchen Jungen Vincent wohl gemeint
hatte.
Sie brauchten nicht lange zu warten.
Vincent kam zurück und scheuchte einen nassen, zitternden Jungen vor sich her,
der nur mit einer Badehose und Gummisandalen bekleidet war. Neil hatte ein
weißes Handtuch bei sich, das er wie einen Sack umklammert hielt. Er wirkte
sehr zufrieden mit sich, auch wenn sein Vater diese Meinung offenbar nicht
teilte.
»Ich hab’ es, Pop«, schrie er gegen den
Wind.
»Ha!« Sein Vater schob ihn rau, aber
herzlich in den Stall. »Hier, zieh dir um Gottes willen was drüber, sons’
erfrierst du noch.«
Er hüllte seinen Sohn in einen
schwarzen Regenmantel, den er ursprünglich wohl für sich selbst mitgebracht
hatte, und verschwand mit ihm in Richtung Küche. Ohne den stämmigen Mann wirkte
der Stall plötzlich weit weniger einladend. Emma entschied, sich ebenfalls auf
den Rückweg zu machen, und die anderen schlossen sich ihr an.
Neil war gerade dabei, sein weißes
Handtuch auf der Arbeitsplatte neben der Küchentür auszubreiten. Auf dem
Handtuch lag der Stirnreif der Feenkönigin inmitten anderer Schmuckstücke aus
Emmas gestohlener Tasche.
»Ich wusste, dass ich sie vor Ebbe
finden musste, bevor sie im Sand versinken oder aufs offene Meer treiben«,
erklärte der Junge stolz, »also bin ich raus. War gar nicht so schlimm unter
den Klippen, Pop. Ich war die ganze Zeit im Windschatten, weißt du. Aber der
Wind wird echt immer stärker. Hoffentlich haben Ches und Wal es noch bis zum
Hafen geschafft, bevor der Sturm richtig losging.«
Emma war entsetzt, dass Neil sein Leben
riskiert hatte, nur um ihren wertlosen Tand zu retten, und setzte an, sich bei
dem Jungen zu bedanken. »Ich bin dir wirklich sehr dankbar, dass du dir so viel
Mühe gemacht hast, Neil«, begann sie, doch bevor sie zum »aber« kommen
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