Joe Golem und die versunkene Stadt
sie nicht mal den Versuch unternahm.
Sie zog Laken und Decke vom Bett und hüllte sich warm darin ein. Dann ließ sie den Blick durch den Raum schweifen. Wo war sie? Sie war noch nie entführt worden, aber sie hatte Mädchen gekannt, denen so etwas – und noch Schlimmeres – passiert war. Ein Mädchen, das von der Straße gekidnappt wurde, wachte normalerweise an ein Bett gekettet in einem kalten, feuchten Raum auf, in dem es nach Urin stank, aber nicht an einem Ort wie diesem.
In ihrem ganzen Leben hatte Molly noch nie in einem Bett geschlafen, das so weich war, und unter einer Decke, die so frisch und sauber roch. Zwischen den Bettpfosten hingen Vorhänge herab, aus schwerem Stoff und von tiefroter Farbe. Molly hätte im Dunkeln gelegen, wären die Vorhänge nicht auf einer Seite mit dicken goldenen Schnüren festgebunden gewesen.
Sie stand auf, stellte sich neben das riesige Bett und blickte auf das weiche baumwollene Nachthemd hinunter, das sie trug.
Vor Zorn und Scham lief sie rot an. Hatte Joe sie ausgezogen, während sie bewusstlos gewesen war? Ihre Kleider waren nass und schmutzig gewesen, das Nachthemd aber war sauber und trocken. Das war eine Verbesserung, natürlich, aber der Gedanke, dass Joe sie nackt ausgezogen hatte, verursachte ihr eine Gänsehaut. Sie hatte in den halb versunkenen Gebäuden an den Kanälen New Yorks gewohnt. Sie hatte auf sich allein gestellt in wahren Rattenlöchern überlebt, in tiefen Schatten und verlassenen Häusern, die von Herumtreibern besetzt worden waren. Es war ihr gelungen, den schlimmsten Dingen, die einem auf sich allein gestellten Kind in der Versunkenen Stadt widerfahren konnten, so lange zu entkommen, bis sie Felix begegnet war und von ihm aufgenommen wurde.
Doch Molly hatte Schreckliches beobachtet und grauenvolle Geschichten gehört, die andere Kinder erzählten, Jungen wie auch Mädchen. Es waren Geschichten über Männer und Frauen, deren scheußliches Treiben erkennen ließ, dass sie kein Mitleid kannten und kein Gewissen hatten.
Beruhige dich , ermahnte sie sich. Sei schlau. Denk es zu Ende.
Joe hatte den Gas-Mann fast mühelos besiegt. Er besaß ungeheure Kraft. Wenn er finstere oder abartige Absichten gegen sie hegte, konnte Molly ihn nicht aufhalten. Doch sie empfand weder Schmerz noch Übelkeit, und nichts deutete darauf hin, dass irgendeine Perversion an ihr verübt worden war, während sie geschlafen hatte. Obwohl die Intimität, dass jemand sie umgezogen hatte, an sich schon einen Übergriff bedeutete, hatte Joe es wahrscheinlich nur gut gemeint. Vermutlich würde sie es früh genug herausfinden.
Leichtfüßig durchquerte Molly das Zimmer. Die Tür stand einen oder zwei Zoll weit offen, und durch den Spalt hörte sie leises Stimmengemurmel. Sie musste hier weg, hatte es aber nicht eilig, Joe wiederzubegegnen und ließ sich einen Augenblick Zeit, ihre Umgebung in sich aufzunehmen. Das ganze Zimmer hatte etwas Altertümliches an sich. An einer Wand stand ein hoher Schrank, daneben ein niedriger Sekretär. Auf dem Sekretär stand eine Schüssel mit frischem Wasser. Molly brauchte ein paar Sekunden, bis sie begriff, dass es eine Waschschüssel sein sollte. Vor der gegenüberliegenden Wand stand ein kleines Bücherregal.
An den Wänden hingen gerahmte Fotografien. Fast alle waren vom Alter verblasst und stumpf. Die Personen auf den Bildern trugen die Kleidung einer anderen Zeit; ein paar von ihnen standen vor Autos,die man in New York seit Jahrzehnten nicht mehr kannte. Eine Aufnahme erregte Mollys besondere Aufmerksamkeit. Ein schlanker, elegant gekleideter Bursche mit hohen Wangenknochen und einer runden, drahtgefassten Brille stand neben einem anderen Mann, dessen buschiger Schnauzbart ihm vielleicht das gewisse Etwas verleihen und seine Schlägervisage verdecken sollte, aber in beiden Punkten scheiterte. Seine leicht schiefe Knollennase erweckte den Eindruck, als wäre sie oft gebrochen worden, und er hatte riesige Pranken.
Zwischen den beiden Männern stand eine hübsche Frau mit einem kleinen Hut, der an ihrem Haar festgesteckt sein musste, und einer winzigen Handtasche.
Hinter ihnen war auf dem Foto das Flatiron Building zu erkennen, dessen untere Stockwerke Molly noch nie gesehen hatte. Die Fotografie war aufgenommen worden, ehe der Untergang der Stadt begonnen hatte; sie zeigte das Flatiron Building am Südende des Madison Square.
Mollys Blick blieb eine Weile auf dem Bild haften, denn es weckte Neugierde und einen Anflug von
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