Joe Golem und die versunkene Stadt
das nicht! Lassen Sie mich los! Die haben meinen Freund entführt! Ich kann ihn nur finden, wenn ich sie verfolge!«
»Das ist nicht der einzige Weg«, erwiderte Joe. Er hielt Molly so fest, dass sie wusste, sie würde sich niemals befreien können. »Wir müssen zum Church.«
»Was?«, stieß sie hervor. »Sind Sie verrückt geworden, Mister? Beten hilft nicht, ich muss sie finden. Ich kenne jede Brücke und jede Ecke in diesem Teil der Stadt. Ich kann sie kriegen. Ich kann es schaffen, ohne dass sie mich sehen. Bitte, lassen Sie mich gehen! Bitte!«
Joe schüttelte den Kopf, den abgerissenen Arm des Gas-Mannes in der einen, Molly in der anderen Hand.
»Tut mir leid, Kleine. Ich muss damit zum Church.« Er kniff die Augen zusammen. »Und dich nehme ich mit. Keine Widerrede. Für Diskussionen fehlt uns die Zeit.«
Molly schüttelte den Kopf und fragte sich, wie sie Joe so falsch hatte einschätzen können. Sie hatte sich in seiner Gegenwart sicher gefühlt, und nun hatte er sich als genauso ein Raubtier entpuppt wie die anderen. Er war nur eine andere Art von Ungeheuer.
»Ich gehe nirgendwohin, schon gar nicht in irgendeine blöde Kirche«, rief sie und wartete auf den richtigen Zeitpunkt, bereitete sich darauf vor, Joe anzugreifen. Wenn sie ihm die Finger in die Augen stach, würde sein Griff sich für einen Moment lockern, und dann konnte sie sich losreißen und davonrennen. Er war schnell, aber auf den Brücken und Stegen war sie die Schnellere.
Wenn sie es bis ins Gewölbe auf der 23 rd schaffte, könnte Joe ihr nicht hineinfolgen. Das Gebäude war verschlossen; nur schmale Stollen führten ins Innere und wieder hinaus, viel zu eng für einen Riesen wie ihn.
»Ich will dir keine Angst machen«, sagte Joe, und es hörte sich beinahe so an, als meinte er es ehrlich.
Die Finger zu Klauen gekrümmt, schlug Molly nach seinen Augen. Doch er war zu schnell für sie und drehte den Kopf weg. Dann ließ er den abgerissenen Arm fallen, wirbelte zu Molly herum und warf sie zu Boden. Der Zorn war aus seinen grauen Augen verschwunden, nur noch Trauer spiegelte sich darin. Er zog ein Fläschchen und einen schmutzigen Lappen aus den Taschen seines langen Mantels.
»Tut mir leid«, sagte er und tränkte den Lappen mit dem Inhalt des Fläschchens.
Molly sprang auf und versuchte wegzurennen, doch Joe packte siemit einer Hand und drückte ihr mit der anderen den Lappen vors Gesicht. Ein chemischer Gestank stach Molly in die Nase. Sie versuchte, nicht zu atmen, aber es war bereits zu spät. Sie spürte, wie ihre Glieder schlaff wurden, und am Rand ihres Blickfelds regten sich schwarze Schatten. Sie dachte an den Gas-Mann und daran, wie er zusammengesunken war. Würde ihre Haut nun genauso aufplatzen wie der Taucheranzug des Gas-Mannes und ihren Geist in Gestalt von Rauchfähnchen entweichen lassen?
Als Mollys Bewusstsein schwand, rief sie stumm nach Felix. Er hatte von schlechten Träumen gesprochen. Waren diese Träume nun wahr geworden? Würde sie sich zu ihm gesellen?
Dann wurde sie von den Schatten verschluckt.
Es war, als würde sie ertrinken.
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Kapitel 5
M olly erwachte mit einem dumpfen Schmerz im Schädel und stellte zu ihrer Überraschung fest, dass sie in dicke Baumwollbettwäsche eingewickelt war. Die Wäsche war weicher als alles, was sie je berührt hatte.
Sie schlug die Augen auf. Über ihr hing ein rotes Tuch, das sie stirnrunzelnd betrachtete. Sie versuchte sich zu erinnern, wo sie sich befand und wie sie hierhergekommen war.
Dann flutete die Erinnerung über sie hinweg wie eine Woge. Furcht und Besorgnis beschleunigten ihren Puls. Die Gas-Männer … die Mendehlsons … Felix …
Ruckartig setzte Molly sich auf und versuchte die Spinnweben fortzuwischen, mit denen der Schlaf ihr Bewusstsein überzogen hatte. Der riesenhafte Mann, der sie gerettet hatte – Joe –, hatte ihr irgendetwas vor das Gesicht gehalten, wovon sie besinnungslos geworden war. Er musste sie hierher gebracht haben.
Aber wo war er jetzt?
Sie musste von hier verschwinden. Angst überfiel Molly und weckte eine grimmige Entschlossenheit in ihrem Innern. Felix hätte niemals zugelassen, dass ihr etwas zustieß, doch als die Gas-Männer die Wohnung gestürmt hatten, war sie davongelaufen. Sie musste zum Theater zurück und herausfinden, was Felix widerfahren war und wohin die Gas-Männer ihn verschleppt hatten! Wahrscheinlich war es ein hoffnungsloses Unterfangen, aber Molly würde es sich niemals verzeihen, wenn
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